Die letzten Monate habe ich hauptsächlich damit verbracht, Motivation und Energie in Teams aufzubauen. Der Ausgang der Gespräche mit den Führungskräften bildete fast immer die Sorge, ob sie auch wirklich alles getan haben, was sie konnten, damit sich ihre Teams wohl fühlen. Dabei sind die meisten von ihnen selbst am Rande ihrer Kräfte angelangt. Kein Wunder, landeten wir alle auf bisher unbekannten Terrain: Die Mehrheit der Wissensarbeiter musste von heute auf morgen ihre Arbeit von zu Hause aus zu erledigen. Die Anzahl der täglichen Zoom-Nutzer stieg von 10 Millionen auf 200 Millionen. Diese plötzliche Verschiebung bewirkte etwas bisher Einmaliges in der Geschichte: Eine globale Müdigkeit breitete sich aus und machte sichtbar, wie erschöpft alle sind – und das nicht erst seit ein paar Monaten, schon seit geraumer Zeit.
Die meisten Menschen gehen durchs Leben und denken, dass sie eigentlich ausgeruht sein müssten - rein theoretisch gesehen haben sie schließlich eigentlich genug Schlaf bekommen. In Wirklichkeit aber fehlt ihnen aber die Art der Erholung, die sie eigentlich so dringend brauchen. Die Menschen leiden an einem Erholungsdefizit, weil sie die wahre Notwendigkeit von Erholungsphasen nicht erkennen. Das Ergebnis ist eine Kultur leistungsstarker, hochproduktiver, chronisch müder und chronisch ausgebrannter Menschen.
Das Gefühl der Müdigkeit und des Energiemangels ist zurzeit weltweit zu beobachten. Egal, in welcher Branche oder in welchem Land ich unterwegs bin, jeder scheint irgendwie davon betroffen zu sein: Der normalerweise sehr ruhige Mitarbeiter, der sich plötzlich stundenlang über nichts Besonderes echauffiert und sich gar nicht mehr beruhigen kann oder die Führungskraft, die die junge Kollegin anschnauzt, weil sie einen nicht weiter tragischen Fehler gemacht hat. Die Menschen reagieren scheinbar übertrieben emotional auf Bagatellen.
Solche Vorkommnisse sind typische Anzeichen von lang-anhaltendem Stress. Seit mehr als einem Jahr fehlen typische Wege zur Entspannung wie Urlaub oder soziale Treffen, bei denen man sich mit anderen austauscht. Die Einschränkungen, von denen wir alle seit der Pandemie betroffen sind, fordern aber nun brutal ihren Tribut. Die Folge dieser langen Phasen von anhaltendem Stress gepaart mit verlängerten Arbeitszeiten – aber ohne die üblichen Möglichkeiten der Energiegewinnung führen zu suboptimalem Verhalten. Menschen, die unter einem solchen Stressniveau leiden, können weder logisch noch klar denken oder reagieren. Sie können auch nicht mit Fehlern oder Veränderungen umgehen. Das wiederum beeinträchtigt die Kreativität, Innovation und letztendlich die gesamte Leistung eines Teams.
Der Covid-19-Krise alleine die Schuld dafür zu geben, ist aber meines Erachtens nach zu kurz gegriffen. Denn schon vor der Pandemie wurden diejenigen Mitarbeitenden mit Auszeichnungen versehen, die sich durch besonderen Fleiß oder lange Arbeitszeiten bemerkbar gemacht haben. Die Pandemie hat allerdings die Probleme massiv verschärft, denn mit den Lockdowns sind auch die Möglichkeiten, Auszeit vom Alltag zu nehmen, weggefallen. Auch Aktivitäten wie das tägliche Pendeln von Zuhause zur Arbeit und wieder zurück sind verloren gegangen. Dabei helfen genau solche Unterbrechungen dabei, den Tag Revue passieren zu lassen und sich geistig von der Arbeit zu trennen. Da jeder den ganzen Tag ohne Unterbrechung Zuhause war, blieb den Menschen nicht viel übrig als zu arbeiten. Das Zuhause ist zum Büro mutiert. Die Folge war, dass die Menschen 24h am Tag im Büro verbracht haben – ob sie es wollten oder nicht.
Aus dieser speziellen Dynamik herauszufinden ist wirklich nicht einfach und alleine fast nicht möglich. Sie müssen zuerst die eigenen Muster erkennen und sie dann in ihrer Sinnhaftigkeit bewerten, um überhaupt zu sehen, was Sie ändern müssen, um wieder zu mehr Energie zu finden. Die Muster zu unterbrechen ist allerdings nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie müssen die Dinge auch aktiv ändern, wenn Sie wollen, dass sich Ihre und die Situation Ihres Teams maßgeblich verbessert. Eine Möglichkeit besteht darin sich zu fragen, ob die momentane Arbeitsbelastung angesichts des Stress irgendwelche Vorteile bringt. Vielleicht gibt es auch innerhalb des Unternehmens zu viele Ebenen, die die Aufgaben unnötig verkomplizieren und es wird ständig hin- und hergeschoben. Oder es wird nicht kommuniziert, welche Erwartungen das Unternehmen überhaupt an die Mitarbeiterinnen im Home-Office stellt.
Es gibt aber noch eine weitere Lösung aus dem Bereich des Leistungssportes. Etliche Studien deckten bereits das Geheimnis der Spitzensportler auf: Damit diese über längere Zeit ein hohes Leistungsniveau aufrechterhalten können, kombinieren sie stressige Phasen mit kurzen Phasen der Erholung. Dazu wählen sie Aktivitäten aus, die die Herzfrequenz nachweislich senkt und Stresshormone abbaut. Viele Athleten entspannen sich bewusst, indem sie sich zum Beispiel zurückziehen und ihre Lieblingsmusik hören.
Aktivitäten wie Tagträumen, einem Spaziergang zu unternehmen oder einen Roman zu lesen hilft dabei ein Gefühl der Ruhe zu entwickeln. Es gibt uns neue Energie und Motivation. Auch Schlaf ist ein wichtiger Bestandteil der Erholung. Aber eine Änderung der Schlafgewohnheiten allein reicht selten aus, um diese Art der Müdigkeit tatsächlich auch zu heilen: Sie brauchen auch während der wachen Stunden Momente der Erholung.
Auch wenn es in einem geschäftigen Arbeitsumfeld und in unserer ständig aktiven Welt eine Herausforderung ist, sich Momente der Erholung zu gönnen, zahlt es sich wirklich aus, denn Sie unterstützen so aktiv Ihre psychische Gesundheit. Und eine echte Mittagspause führt dazu, dass das Engagement, die Arbeitszufriedenheit und die Effizienz sich erhöhen.
Wenn Sie Phasen von intensiver Arbeit mit einer Pause unterbrechen, helfen Sie sich am meisten. Am besten eignen sich 15-Minuten-Unterbrechungen: Blättern Sie durch eine Zeitschrift oder essen Sie zu Mittag mal abseits Ihres Schreibtisches. Gönnen Sie sich einen Kaffee – alleine und ohne E-Mails und Telefon. Lesen Sie Ihrem Kind eine Geschichte vor oder spielen Sie ein Spiel. Ich selber habe begonnen die Welt aus verschiedenen Perspektiven mit der Kamera zu betrachten und so für einen Augenblick mal alles andere abzuschalten. Natürlich können Sie auch zu bewährten Mitteln wie Meditation oder Yoga greifen, wenn Ihnen das wirklich Spaß macht. Aber das ist eben nicht bei jedem der Fall.
Es gibt keine schnelle Lösung, um von heute auf morgen wieder voller Energie zu sein. Sie müssen klein starten, sonst überwältigt Sie die Aufgabe schnell. Große Veränderungen beginnen immer mit kleinen Schritten, die auf kollektive Veränderungen hinarbeiten.
Verschwenden Sie diese Krise nicht. Wenn Sie jetzt arbeitsbedingte Stresssignale erkennen, weil Sie aufmerksamer sind, besteht Hoffnung für die Zukunft. Es gibt kein Zurück mehr. Wir alle haben einen Crashkurs in emotionaler Flexibilität erlebt – es wäre schade, das Gelernte nicht zu nutzen. Es ist an der Zeit, den unvermeidbaren Wandel anzunehmen und in einen Alltag zu entwickeln, der Platz fürs Mensch-Sein lässt. Und zwar ab sofort.