Der Wunsch nach Garantie als Feind des Fortschritts

Technologie verändert jede Facette unseres Lebens – und das in einem rasenden Tempo. Eine der wichtigsten Auswirkungen der digitalen Revolution auf unseren Arbeitsplatz ist, dass Fachwissen alleine bei weitem nicht mehr so so große Relevanz hat wie noch vor einigen Jahren. Anders gesagt: Was Sie jetzt wissen, ist nicht so wichtig wie das, was Sie zukünftig lernen. Aber auch die richtige Antwort zu kennen, ist nicht annähernd von so entscheidender Bedeutung wie überhaupt die richtigen Fragen zu stellen. Die Fähigkeit, schnell zu lernen, menschliche Eigenschaften wie Empathie und Kreativität einzusetzen und die vorhandenen Fertigkeiten an neue Herausforderungen anzupassen, sind wichtiger denn je.

Der Zukunftsforscher Alvin Toffler fasste die Wichtigkeit des Lernens wie folgt zusammen „Die Analphabeten des 21. Jahrhunderts werden nicht diejenigen sein, die nicht lesen und schreiben können, sondern diejenigen, die nicht lernen, verlernen und umlernen können.“

Um eine Unternehmenskultur aufzubauen, in der Lernen durch Ausprobieren und neue Wege zu gehen auf der Tagesordnung steht, braucht es vor allem ein Gefühl des gegenseitigen Respekts, des Vertrauens und der Sicherheit. Denn Menschen gehen nur dann Risiken ein, wenn sie keine Angst haben, dass sie ausgelacht oder dass es zu irgendwelchen negativen Konsequenzen kommt. Positive Emotionen wie Motivation, Neugier, Zuversicht und Inspiration werden in einem solchen Umfeld erweitert und helfen dabei, psychologische, soziale und physische Ressourcen aufzubauen. Menschen, die sich sicher fühlen, sind aufgeschlossener, belastbarer und ausdauernder.

Eine Erklärung, warum psychologische Sicherheit gerade in Unternehmen in unsicheren Zeiten und für den eigenen Erfolg so entscheidend ist, findet sich in der Evolution wieder: Das menschliche Gehirn empfindet negatives Feedback durch den Chef oder konkurrierende Kollegen wie eine Bedrohung auf das eigene Leben. Dadurch wird das interne Alarmsystem, die Amygdala, aktiviert, die sofort in den Kampf-oder-Flucht-Modus umschaltet. Das Gehirn nimmt daraufhin automatisch die „zuerst handeln, später denken“ -Haltung an. Die Folge ist, dass Menschen genau dann den Verstand verlieren, wenn sie ihn am meisten brauchen. Der Erfolg im einundzwanzigsten Jahrhundert hängt aber nicht vom Kampf-oder-Flucht-Modus, sondern von einem ganz anderen Umfeld ab: Es braucht positive Emotionen wie Vertrauen, Inspiration und Zuversicht, um komplexe Probleme zu lösen.

Unternehmen brauchen dafür eine gewisse Kultur. Sie müssen sich offen für neue Ideen zeigen, den MitarbeiterInnen das Gefühl geben, dass neue Wege erwünscht sind und sich für Kritik und Feedback öffnen. Dieses Denken alleine funktioniert allerdings nur bedingt wie in einer Studie nachgewiesen wurde. Dafür wurden Führungskräfte gebeten, Feedback rund um ihr Verhalten von den Mitarbeitenden einzuholen. Kurzfristig führte dieses Vorgehen sogar zu einer höheren psychologischen Sicherheit. Allerdings hielt dieser Effekt nicht lange an: Einige der Führungskräfte mochten das Gehörte nicht, gingen in die Defensive oder empfanden das Feedback als nutzlos.

Bei einem weiteren Versuch wurde ein kleiner Zusatz hinzugefügt: Anstatt die Mitarbeitenden nur um Feedback zu bitten, sollten die Führungskräfte ihre bisherigen Erfahrungen nach dem Erhalt der Kritik und auch ihre zukünftigen Entwicklungsziele mit den Mitarbeitenden teilen. Sie sollten sagen, welches Feedback ihnen warum geholfen hat und an welchen Bereichen sie ab sofort intensiv arbeiten wollten, um sich darin zu verbessern. Dieses Zugeständnis führte dazu, dass die MitarbeiterInnen die Führungskräfte in einem anderen Licht betrachteten: Sie wurden als verletzlich und offen für Veränderung und Kritik empfunden. Die MitarbeiterInnen begannen nach einer ersten Phase der Skepsis und des Abwartens von sich aus nützliches Feedback mit den Führungskräften zu teilen. Sie empfanden es als positiv, dass die Führungskräfte aktiv an ihrem Wachstum arbeiteten und das wollten sie unterstützen. Das Ergebnis war, dass die gesamte Unternehmenskultur sich zu einer offenen Lernkultur entwickelt: Nicht nur Feedback war gewünscht, auch die aktive Weiterentwicklung und das Eingehen von Risiken wurde unterstützt.

Psychologische Sicherheit darf kein einmaliges Unterfangen sein. Der Aufbau einer solchen Kultur kostet vor allem Zeit und fordert Ausdauer. Der „Wer-hat-was“-Mentalität in einem Unternehmen liegen universelle Bedürfnisse wie Respekt, Kompetenz, sozialer Status und Autonomie zugrunde. Wenn Führungskräfte die tieferen Bedürfnisse der Mitarbeitenden erkennen, können sie Vertrauen auf natürliche Weise fördern und eine positive Sprache bzw. Verhaltensweisen unterstützen.

Wie die Studie zeigt, reicht es allerdings nicht aus, nur das Denken zu ändern. Wenn Sie eine neue Unternehmenskultur aufbauen wollen, braucht es vor allem eine Umgebung, in der es möglich ist zu lernen, auszuprobieren, umzulernen und zu wachsen. Es muss möglich sein, bereits getätigte Entscheidungen nochmals überdenken zu dürfen. Werden allerdings nur die Erfolge bzw. Misserfolge von einzelnen Projekten beurteilt, entsteht keine Lernkultur, sondern eine Leistungskultur.

In einer Lernkultur steht das Hinterfragen der eigenen Handlungsweisen an oberster Stelle. Ist eine einmalige Entscheidung positiv ausgefallen, ist das dann nicht unbedingt ein Zeichen für Erfolg – schließlich könnte auch der Zufall seine Finger im Spiel haben. Sozialwissenschaftler haben herausgefunden, dass die Handlungsweisen erst dann wirklich hinterfragt werden, wenn der persönliche Einsatz hoch und der Misserfolg dramatisch war. Deswegen sind in Lernkulturen vor allem das Eingehen von Risiken und das Ausprobieren neuer Ansätze ein wesentlicher Bestandteil. Bestehenden Vorgehensweisen müssen hinterfragt und oftmals geändert werden, bis tatsächlich auch Verbesserungen stattgefunden haben. Um zu lernen und Neues auszuprobieren, eignen sich vor allem Projekte, die keine großen Auswirkungen auf den Erfolg des Unternehmens haben.

Der Wunsch nach Garantie ist der Feind des Fortschritts. Amazon bittet zum Beispiel seine MitarbeiterInnen Wetten abzuschließen und verzichtet bewusst auf die Bewertungen von Erfolgen. Auf diese Weise heißen sie Experimente willkommen, die Routinen hinterfragen und die die Neugier und das Risiko einladen.

Lernen sollte stets als eine fortlaufende Aktivität gesehen werden – und zwar ohne einen endgültigen Punkt am Ende des Projektes. In Leistungskulturen fördern Unternehmen den Konkurrenzkampf und rufen zum Vergleich der Fähigkeiten auf. Aber in Lernkulturen finden Entwicklungen und Veränderungen statt, die die Menschen unterstützen und dabei auch dem Unternehmen selbst zugutekommen.