Die Illusion, die uns gefangen hält

Ich war Ende zwanzig, als mir zum ersten Mal auffiel, dass ich ein Leben führte, das ich nie wirklich gewählt hatte. Ich hatte Betriebswirtschaft und Psychologie studiert, weil meine Eltern sagten, das sei solide. Ich hatte Jobs angenommen, die „gut aussahen auf dem Lebenslauf“, weil gutmeinende Menschen mir rieten, strategisch zu denken. Ich nickte in Meetings zu Strategien, bei denen mir innerlich unwohl war, weil alle anderen auch nickten.

Seit fünfzehn Jahren bin ich jetzt selbstständige Unternehmensberaterin, und von außen sieht es gut aus. Aber wenn ich ehrlich bin (und das fällt mir diesbezüglich wirklich nicht leicht), habe ich viele Entscheidungen getroffen, weil ich dachte, das sei es, was erfolgreiche Menschen tun. Nicht das, was ich wollte. Sondern was ich glaubte, dass andere wollten, dass ich es will.

Das klingt absurd. Aber ich bin nicht allein.

Der Wissenschaftler Todd Rose von der Harvard University hat diesem Phänomen einen Namen gegeben: kollektive Illusion. In einer Studie gaben 97% der Menschen an, dass Erfolg für sie persönlich bedeutet, Sinn und Zweck im Leben zu haben. Gleichzeitig glaubten 92%, dass die meisten anderen Menschen Erfolg über Karriere, Geld und Ruhm definierten. Lesen Sie das noch einmal. Fast alle von uns wollen dasselbe. Aber: fast alle glauben, die anderen wollten etwas völlig anderes. Deshalb jagen wir so oft die vertrauten Attribute von Geld, Ruhm und Erfolg, die uns leer zurücklassen, selbst wenn wir sie erreichen.

Hier ist das Tragische daran: Es geht nicht nur um Karriere. In weiteren Untersuchungen stellten die Forscher fest, dass Menschen glauben, ihre Mitmenschen seien härter, leistungsorientierter, politisch extremer als sie selbst. Die Wahrheit? Die meisten von uns sehnen sich nach Menschlichkeit, nach Sicherheit, nach echter Verbundenheit. Aber wir trauen uns nicht, das zu sagen. Wir alle wollen im Grunde dasselbe, aber wir bauen ein falsches Bild voneinander auf, um dann verzweifelt zu versuchen, diesem Bild zu entsprechen.

Das ist nicht nur irrational. Es schadet uns.

Vor ein paar Jahren sass ich mit einer alten Freundin beim Kaffee. Sie fragte mich, was ich wirklich wolle. Nicht was ich erreichen wolle, sondern was ich wolle. Ich starrte in meine Tasse und merkte: Ich wusste es nicht. Ich wusste, was ich tun sollte. Ich wusste, was als nächster logischer Karriereschritt kam. Aber was ich wollte? Das hatte ich mich selbst schon so lange nicht gefragt, dass ich die Antwort vergessen hatte.

Thomas von Aquin schrieb im 13. Jahrhundert: „Das größte Leiden entsteht nicht aus dem, was ist, sondern aus dem, von dem wir glauben, dass es sein sollte.“ Wir leiden nicht an der Realität. Wir leiden an unseren Illusionen über die Realität.

Rose erklärt, dass junge Menschen besonders anfällig sind, weil sie ihre Werte noch formen. Sie schauen auf andere, um zu lernen, was wichtig sein sollte. Wir Menschen sind eine hypersoziale Spezies. Wir kopieren nicht nur Verhaltensweisen voneinander, wir kopieren Wünsche. Ein Teenager sagte Rose einmal, er wolle eine Million Follower auf Social Media haben. Warum? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er es wollte. Die kollektiven Illusionen einer Generation werden tendenziell zu den privaten Überzeugungen der nächsten Generation. Das lohnt sich zu bedenken.

Aber die Wahrheit ist: Es betrifft nicht nur die Jungen. Ich selbst habe erst vor ein paar Jahren angefangen, wirklich zu fragen, was ich will. Die meisten meiner Klienten – erfolgreiche Führungskräfte, Gründerinnen, Menschen mit beeindruckenden Lebensläufen – kämpfen mit derselben Frage.

Sie kennen bestimmt das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: Zwei Betrüger überzeugen einen Kaiser, sie hätten die prächtigsten Kleider erschaffen. Die seien so fein, dass nur die Klugen sie sehen können. Der Kaiser steht nackt vor seinem Volk. Alle schweigen. Bin ich zu dumm, um die Kleider zu sehen? denkt jeder. Dann ruft ein Kind: „Er ist nackt!“ Die Illusion zerbricht. Einer nach dem anderen gibt zu, was alle die ganze Zeit wussten.

Das Kind war kein Held. Es war einfach ehrlich.

Diese Geschichte zeigt etwas Wichtiges: Ich dachte früher, Mut bedeute, der Einzige im Raum zu sein, der aufsteht und gegen alle kämpft. Das ist Hollywood-Unsinn. Echter Mut klingt leiser. Er klingt wie: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem wirklich zustimme.“ Oder: „Wie siehst du das wirklich?“ Nicht die Unternehmens-Version, nicht das, was du denkst, dass ich hören will. Was denkst du wirklich?

Selbstzensur füttert unsere Illusion. Wenn wir schweigen, signalisieren wir anderen, dass wir mit den scheinbaren Gruppennormen übereinstimmen. Und das sendet ihnen die Botschaft, ebenfalls zu schweigen. Das ist der Kreislauf. Jeder wartet darauf, dass jemand anders anfängt. Und währenddessen verstärkt sich die Illusion.

Letzte Woche sass ich mit einem Führungsteam in einem Workshop. Wir diskutierten über ihre neue Strategie: flexible Arbeitszeiten, Remote-Arbeit, flache Hierarchien. Die übliche Chose. Dann sagte eine Person leise: „Darf ich etwas Unpopuläres sagen? Ich vermisse die Struktur. Ich vermisse es zu wissen, wann mein Arbeitstag endet. Diese ganze Flexibilität fühlt sich manchmal an wie ein Gefängnis.“

Die Stille danach war elektrisierend. Dann brach der Damm. „Ich auch.“ „Ich dachte, ich wäre die Einzige.“ Innerhalb von Minuten sprachen alle über das, was sie wirklich fühlten. Die Erleichterung im Raum war physisch spürbar.

Eine Person. Ein Satz. Eine Illusion, zerschmettert.

Was früher in Konferenzräumen und am Familientisch geschah, spielt sich heute auf einer noch größeren Bühne ab: Social Media verschärft das Problem. Plattformen geben Menschen mit extremen Meinungen die Möglichkeit, schnell und einfach die Wahrnehmung eines Mehrheitskonsenses zu schaffen. Und das bringt die Mehrheit der Menschen mit gemäßigteren Ansichten zum Schweigen. Wenn zwei Drittel der Menschen sich selbst zensieren, sind die einzigen hörbaren Stimmen die der Ränder. Das Resultat? Eine Illusion, die uns alle gefangen hält.

Hier kommt die gute Nachricht: Diese Illusionen sind zerbrechlich. Sie brauchen unser Schweigen, um zu überleben. Ein einziger ehrlicher Satz kann sie zerbrechen.

Ich habe drei Dinge über kollektive Illusionen gelernt, die mir geholfen haben.

  • Erstens: Ein wahrhaftiger Dissens ist immer besser als eine kollektive Illusion. Immer. Selbst wenn Sie falsch liegen – und Sie könnten falsch liegen –, ist Ihre Ehrlichkeit wertvoller als Ihr Schweigen. Marcus Aurelius formulierte es so: „Wenn es nicht richtig ist, tu es nicht. Wenn es nicht wahr ist, sag es nicht.“ Das Prinzip ist einfach, die Umsetzung nicht.

  • Zweitens: Die meisten Menschen sehnen sich danach, ehrlich zu sein. Sie warten nur auf ein Zeichen, dass es sicher ist. Sie könnten dieses Zeichen sein. Das klingt vielleicht nach Druck. Aber Sie müssen nicht laut sein, nicht perfekt. Nur echt.

  • Drittens: Kongruenz, also die Ausrichtung zwischen dem, was Sie glauben, und dem, was Sie tun, ist keine moralische Luxusfrage. Wenn wir mit unseren eigenen Überzeugungen und Werten nicht übereinstimmen, leidet unser Selbstwertgefühl. Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Als ich anfing, Projekte abzulehnen, die sich „gut auf dem Lebenslauf“ machten, aber nicht gut für mich – eine Entscheidung, die von außen wie verpasste Chancen aussah –, wurde ich zum ersten Mal seit Jahren wirklich glücklich. Nicht weil die Projekte besser waren. Sondern weil sie meine waren.

Rose sagt, dass kollektive Illusionen Demokratien schwächen. Das stimmt. Aber sie schwächen auch etwas viel Intimeres: unsere Seele. Wenn wir ständig so tun, als wären wir jemand, der wir nicht sind, verlieren wir die Verbindung zu dem, wer wir wirklich sind. Wir werden Fremde für uns selbst.

Hier ist meine Einladung: Sagen Sie diese Woche eine Sache, die Sie bisher zurückgehalten haben. Nicht dramatisch. Nicht laut. Einfach wahr. In einem Meeting: „Ich sehe das anders, darf ich erklären warum?“ Zu einem Kollegen: „Wie geht es dir wirklich?“ Zu sich selbst: „Was will ich eigentlich?“

Ich kann nicht versprechen, dass es einfach wird. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie nicht die Ablehnung finden werden, die Sie befürchten. Sie werden Erleichterung finden. Dieses Nicken, das sagt: Danke. Danke, dass du angefangen hast.

Am Ende warten wir alle nur darauf, dass jemand anderes den ersten Schritt macht. Manchmal braucht es nur einen Menschen, um eine Illusion zu zerbrechen.

Vielleicht sind Sie dieser Mensch.