Letzte Woche rief mich eine Klientin an. Sie klang frustriert. Ihr Unternehmen hatte gerade ein großes Umstrukturierungsprojekt abgeschlossen: neue Abteilungen, neue Prozesse, monatelange Planung. Und jetzt, drei Wochen nach dem Launch, herrschte Chaos. „Das Verrückte ist“, sagte sie, „als wir im Führungsteam darüber sprachen, hatte ich von Anfang an Bauchschmerzen. Aber der CEO wirkte so entschlossen, und alle anderen nickten, also dachte ich, ich verstehe es einfach noch nicht.“
Dann erzählte sie mir, was in der ersten Post-Launch-Besprechung passiert war. Einer nach dem anderen gab zu, dass er Zweifel gehabt hatte. Die neue Struktur hatte von Anfang an niemandem wirklich eingeleuchtet. Aber jeder hatte gedacht, er sei der Einzige. Auch der CEO, wie sich herausstellte, hatte nur deshalb so entschlossen gewirkt, weil er dachte, das Team erwarte Führungsstärke von ihm.
Als ich auflegte, musste ich an eine Geschichte denken, die ich zum ersten Mal vor Jahren gehört hatte. Die Geschichte, die der Managementprofessor Jerry Harvey 1974 erzählte, beginnt auf einer Veranda in Texas. Es war brütend heiß. Sein Schwiegervater schlug vor, 80 Kilometer nach Abilene zu fahren zum Essen. Harvey wollte nicht. Die Straße war staubig, das Auto hatte keine Klimaanlage. Aber seine Frau sagte: „Klingt gut.“ Also sagte Harvey: „Warum nicht.“ Sie fuhren.
Vier Stunden später, nach einem mittelmäßigen Sandwich und einer erschöpfenden Fahrt, saßen sie wieder auf der Veranda. „Das war schrecklich“, sagte jemand. „Ich wollte eigentlich nie fahren“, ein anderer. Harveys Frau: „Ich dachte, Dad wollte das.“ Der Schwiegervater schüttelte den Kopf: „Ich dachte, ihr langweilt euch.“ Niemand hatte nach Abilene gewollt. Aber alle waren gefahren.
Harvey nannte das später das Abilene-Paradox: Gruppen treffen gemeinsam Entscheidungen, die niemand will.
Das ist keine Dummheit. Es ist zutiefst menschlich. Wir sind soziale Wesen, und unser Gehirn ist darauf programmiert, Zugehörigkeit über Wahrheit zu stellen. Die Angst vor Ablehnung sitzt tiefer als der Wunsch nach Ehrlichkeit. Psychologen nennen das „pluralistische Ignoranz“: Jeder glaubt, seine Meinung sei die Ausnahme, also schweigt er. Das Paradoxe: Alle denken dasselbe, aber niemand spricht es aus.
In Unternehmen führt das zu Strategien, die scheitern, bevor sie beginnen. In Beziehungen zu Entscheidungen, die beide Partner bereuen. In der Politik zu Kompromissen, die niemanden zufriedenstellen. Und das alles, weil wir Harmonie mit Wahrheit verwechselt haben.
Wir loben „konsensbasierte Entscheidungen“ und „respektvolle Diskussionen“. Aber oft bedeutet das nur: Niemand traut sich zu widersprechen. Wir haben eine Kultur geschaffen, in der Schweigen als Zustimmung gilt und Höflichkeit wichtiger ist als Klarheit. Eine Studie der Harvard Business School aus 2019 zeigte, dass Teams, die zu schnell Einigkeit erzielen, schlechtere Entscheidungen treffen als solche, die konstruktiv streiten. Reibung ist kein Bug im System, es ist ein Feature.
Die gute Nachricht ist: Das Abilene-Paradox ist vermeidbar. Aber es erfordert drei Dinge von uns.
Zunächst müssen wir Raum für Widerspruch schaffen: Gute Entscheidungen entstehen nicht aus Harmonie, sondern aus Reibung. In den besten Organisationen gibt es regelmäßig Treffen nach dem Muster „Advokaten des Teufels” (hier finden Sie die Anleitung), in denen jemand bewusst den Gegenstandpunkt einnimmt. Dabei geht es nicht um Stören, sondern um Prüfen. Das fühlt sich zunächst unnatürlich an. Aber es rettet uns davor, gemeinsam die falschen Entscheidungen zu treffen.
Zweitens brauchen wir ehrliches Feedback und müssen zeigen, dass wir es wirklich meinen. Menschen spüren, ob wir Kritik hören wollen oder nur Zustimmung suchen. Wenn wir nachfragen, um nur unsere Meinung bestätigt zu bekommen, werden wir genau das bekommen. Und nichts weiter.
Drittens müssen wir lernen, Entscheidung von Beziehung zu trennen: Viele Menschen stimmen zu, um die Beziehung zu schützen. Aber echte Zusammenarbeit entsteht erst, wenn man Meinungsverschiedenheiten aushalten kann, ohne sie persönlich zu nehmen. Und wenn eine wichtige Entscheidung ohne Diskussion fällt, ist das kein Zeichen von Effizienz. Es ist ein Warnsignal.
Die Japaner haben eine Praxis namens „Nemawashi“, es bedeutet die Wurzeln vorzubereiten. Bevor eine Entscheidung offiziell getroffen wird, sprechen die Beteiligten informell miteinander. Sie klären Bedenken. Sie hören zu. Die öffentliche Entscheidung ist dann keine Überraschung mehr, sondern das Ergebnis echter Zustimmung. Vielleicht ist das der Punkt: Gute Entscheidungen brauchen Zeit. Sie brauchen Reibung. Sie brauchen Menschen, die bereit sind, unbequem zu sein.
Denken Sie an die letzte Entscheidung in Ihrem Leben, bei der Sie zugestimmt haben, obwohl Sie eigentlich dagegen waren. Was hat Sie davon abgehalten, ehrlich zu sein? Angst vor Konflikt? Sorge, schwierig zu wirken? Der Glaube, dass Ihre Meinung nicht zählt?
Vielleicht liegt darin die eigentliche Lektion von Abilene. Es geht nicht darum, Konflikte zu suchen oder schwierig zu sein. Es geht darum zu verstehen, dass echte Zusammenarbeit nicht entsteht, wenn alle höflich nicken, sondern wenn Menschen ehrlich sein können, ohne die Beziehung zu riskieren.
Und manchmal, wenn wir denken, wir seien die Einzigen mit Zweifeln, sind wir es nicht. Manchmal sitzen alle anderen auch nur auf dieser Veranda und warten darauf, dass jemand sagt: „Wisst ihr was? Ich will eigentlich nicht nach Abilene.“
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