Letzten Monat scrollte ich durch social media und sah einen dieser Posts, die mich normalerweise zusammenzucken lassen: „Schreib einen Brief an dein jüngeres Ich“. Zuerst habe ich die Augen verdreht. Das ist die Art therapeutische Übung, die darauf ausgelegt scheint, viral zu gehen, die aber nicht tatsächlich jemandem hilft. Pop-Psychologie vom Feinsten.
Aber dann habe ich es ausprobiert. Einfach mal so. Ich dachte, wenn überhaupt etwas passiert, dann würde ich vielleicht ein paar rührende Einsichten haben. Oder mir ein paar Ratschläge wünschen, die ich damals gebraucht hätte. Vielleicht würde ich ein bisschen weinen. Klassisches Selbsthilfe-Zeug.
Es stellt sich heraus, dass ich komplett falsch lag. Die Übung bewirkt tatsächlich etwas. Aber überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte.
Als ich achtzehn war, habe ich enorm viel mentale Energie darauf verwendet, mir über Dinge Sorgen zu machen, die im Nachhinein komplett bedeutungslos waren. Würde ich diese Statistik-Klausur verhauen? Was würde Christian auf der Party über mich denken? Warum wurde ich nicht zu diesem anderen Event eingeladen? Währenddessen habe ich die Dinge, die tatsächlich wichtig war, kaum registriert. Die Vorlesung, in die ich an einem Dienstagmorgen reingestolpert bin? Hat meine ganze Denkweise verändert. Das Gespräch mit einem Professor, das ich fast geschwänzt hätte? Einer der wichtigsten Momente meines Lebens.
Natürlich ist das auch der Rückschaufehler also die menschliche Tendenz, zurückzublicken und Muster zu sehen, die damals nicht wirklich sichtbar waren. Vielleicht war diese Vorlesung einfach nur eine Vorlesung. Vielleicht konstruiere ich Bedeutung, wo keine war.
Aber das ist eigentlich nicht der Punkt hier.
Wenn ich mich jetzt hinsetzen und an die achtzehn-jährige Ingrid schreiben würde, würde ich ihr sagen: „Bitte, entspann dich. Die Party ist vollkommen egal. Geh zur Dienstagsvorlesung. Und hör auf, dir so viele Gedanken zu machen, was andere über dich denken.“ Und wissen Sie, was die achtzehn-jährige Ingrid tun würde? Sie würde es lesen, denken „Jaja, alles klar“, die Augen verdrehen und sich dann trotzdem wegen der Party stressen. Sie würde die Vorlesung schwänzen. Sie würde sich weiter den Kopf darüber zerbrechen, was andere über sie denken.
Und das wäre in Ordnung. Denn (und das ist der Punkt) der Brief war nie wirklich für die achtzehn-jährige Ingrid gedacht.
Denken Sie darüber nach, was Epiktet vor zweitausend Jahren gesagt hat. Der stoische Philosoph hatte diese Idee, dass wir nicht wirklich aus unseren Erfahrungen lernen. Wir lernen aus der Reflexion über unsere Erfahrungen. Das klingt wie ein Unterschied ohne Bedeutung, aber er ist riesig. Ihnen kann exakt dasselbe fünfzig Mal passieren und Sie lernen absolut nichts. Erst wenn Sie innehalten und tatsächlich darüber nachdenken, also wenn Sie es verarbeiten, kommen Sie irgendwohin.
Einen Brief an Ihr jüngeres Ich zu schreiben erzwingt genau diese Reflexion. Wenn ich schreibe „die Dinge, über die du dir Sorgen machst, werden egal sein“, schicke ich keine Nachricht rückwärts durch die Zeit. Ich erkenne ein Muster. Ich sehe, was am Ende wirklich wichtig war und was nicht. Das ist Grund Nummer eins, warum das funktioniert: Es bringt Sie dazu, bewusst über Ihr Leben nachzudenken, auf eine Art, wie Sie es normalerweise nicht tun würden.
Aber es passiert auch noch was Zweites, und das hat mich überrascht, als ich es verstanden habe. Ihr Gehirn ist erst mit Mitte Zwanzig fertig entwickelt. Mit achtzehn hatte ich buchstäblich nicht die neurologische Ausstattung, um bestimmte Dinge zu verstehen. Mein präfrontaler Kortex, der Teil, der langfristige Planung und Impulskontrolle handhabt, war noch im Bau.
Selbst wenn ich also durch die Zeit zurückreisen und das achtzehn-jährige Mich zu einem ernsten Gespräch hinsetzen könnte, würde es nicht funktionieren. Nicht weil ich dumm war, sondern weil mein Gehirn physisch nicht verarbeiten konnte, was ich ihm zu sagen versuchte. Jean Piaget hat das in den 1920ern über Kinder herausgefunden: Sie können einem Sechsjährigen keine Differenzialrechnung beibringen, egal wie gut Ihr Unterricht ist. Kinder müssen erst bestimmte kognitive Fähigkeiten entwickeln. Bei jungen Erwachsenen ist das Prinzip dasselbe. Nur dass die Entwicklungsschritte subtiler sind und wir sie deshalb leichter übersehen.
Ich war in meinen Zwanzigern ein komplettes Beziehungsdesaster. Ich wollte verzweifelt Verbindung, aber rannte auch von jeder Person weg, die mir zu nahe kam. Ein Therapeut hätte meine Bindungsprobleme erklären können, sie zurück zur Kindheit verfolgen, mir alle Einsichten der Welt geben können. Aber ich glaube nicht, dass es viel geholfen hätte. Ich musste diese Beziehungen tatsächlich durchleben, darin scheitern, langsam über Jahre neue Pfade in meinem Gehirn aufbauen.
Wenn ich jetzt an mein jüngeres Ich schreibe und sage „du wirst diese Fehler machen müssen“, dann bin ich nicht pessimistisch. Es ist Selbstmitgefühl. Es gibt tatsächlich viele Forschungsberichte dazu. Sie alle zeigen, dass Menschen, die auf ihre vergangenen Fehler mit Verständnis statt harschem Selbsturteil blicken können, resilienter und mental gesünder sind. Der Brief wird zu einem Weg, sich selbst zu vergeben.
Der dritte Grund, warum der Brief funktioniert, ist vielleicht der interessanteste. Dan McAdams, Psychologe an der Northwestern University, hat seine Karriere damit verbracht zu studieren, wie Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen. Folgendes hat er herausgefunden: Was Ihnen passiert ist, ist weniger wichtig, als wie Sie erzählen, was passiert ist. Menschen, die ihr Leben als Erlösungsgeschichte rahmen – wo die harten Sachen zu Wachstum geführt haben – sind tendenziell glücklicher als Menschen, die dieselben Ereignisse als nur ein Desaster nach dem anderen verstehen.
Jetzt gibt es hier ein Henne-Ei-Problem. Sind diese Menschen glücklicher, weil sie diese Geschichte erzählen, oder erzählen Personen, denen objektiv bessere Dinge passiert sind, natürlicherweise bessere Geschichten? McAdams würde wahrscheinlich sagen, beides ist zeitgleich wahr. Aber hier ist, was wir sicher wissen: Die Geschichte, die Sie erzählen, beschreibt nicht nur Ihr Leben. Sie formt es aktiv.
Das ist also, was passiert, wenn Sie an Ihr jüngeres Ich schreiben. Sie nehmen all diese zufälligen Dinge, die passiert sind, das Gute, das Schlechte, das Unerklärliche, und organisieren sie in eine kohärente Erzählung. Sie sagen: Das war nicht nur Chaos. Das war eine Reise, die letztlich zu meinem jetzigen Ich geführt hat.
Ich sollte hier wahrscheinlich einen Disclaimer hinzufügen. Das funktioniert nur, wenn Sie einigermaßen okay sind damit, wie Ihr Leben sich entwickelt hat. Wenn Sie gerade an einem schlechten Ort sind, wird es sich nicht tröstlich anfühlen, wenn Ihnen gesagt wird „diese Fehler haben Sie zu dem gemacht, der Sie sind“. Es könnte sich grausam anfühlen. Das ist keine magische Lösung für alle. Es ist ein Werkzeug für Menschen, die bereit sind, Frieden mit ihrer Vergangenheit zu schließen, nicht für Menschen in einer Krise.
Aber wenn Sie an einem halbwegs guten Ort sind, dann kann diese Neuinterpretation wirklich etwas verändern. Viktor Frankl, der Auschwitz überlebt hat und dann Psychiater wurde, schrieb, dass Leiden, in dem wir Bedeutung finden können, erträglich wird. Wir können nicht ändern, was passiert ist. Aber wir können absolut ändern, was es für uns bedeutet. Und wenn Sie die Bedeutung ändern, ändern Sie sich selbst – und zwar in der Gegenwart.
Also, was würde ich der achtzehn-jährigen Ingrid tatsächlich schreiben? Wahrscheinlich so was wie: „Hey. Atme durch. Fast nichts, worüber du dir jetzt Sorgen machst, wird in ein paar Jahren noch wichtig sein. Das Zeug, das wichtig sein wird, ist noch nicht mal auf deinem Radar. Das ist okay. Sei lieb und freundlich zu dir selbst. Sei gut zu anderen. Vertraue. Es wird schon klappen. Und wenn es heute nicht gut geht, dann morgen.“
Natürlich würde die achtzehn-jährige Ingrid nicht zuhören. Sie würde die Augen verdrehen und sich wegen der Party stressen. Aber das ist egal, denn ich schreibe es nicht für sie. Ich schreibe es für mich selbst, hier und jetzt.
Die Distanz zwischen der, die ich damals war, und der, die ich jetzt bin – diese Kluft – ist nicht nur Beweis für Wachstum. Sie ist das, was das Wachstum überhaupt erst sichtbar macht. Ohne Distanz können Sie nichts klar sehen.
Probieren Sie es. Schreiben Sie einen Brief an Ihr jüngeres Ich. Nicht, um die Vergangenheit zu ändern – das können Sie nicht – sondern um zu sehen, wie weit Sie gekommen sind. Sie werden sehen, dass die Reise immer das Ziel war.
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