Die E-Mail kam an einem Dienstagmorgen. Eine Leserin schrieb: „Ich verfolge Ihre Artikel seit zwei Jahren. Sie helfen mir wirklich in meiner Arbeit. Aber ich habe eine Frage: Wie machen Sie das eigentlich? Woher kommen diese Themen? Wie finden Sie die Studien dazu? Und wie schaffen Sie es, jede Woche etwas zu veröffentlichen? Nutzen Sie KI?“
Ich las die Mail dreimal, weil mich das bisher niemand so direkt gefragt hatte. Die meisten Menschen interessiert das fertige Produkt. Nicht der Prozess dahinter.
Aber die Frage ließ mich nicht los. Nicht nur, weil ich gerade wieder an einem Text verzweifelte, der nicht werden wollte, was er werden sollte. Sondern weil diese Frage etwas Größeres berührt: Was bedeutet es, in einer Welt zu denken, in der jeder sofort alles wissen kann?
Also schrieb ich zurück und fragte: „Darf ich Sie etwas fragen? Wie oft nutzen Sie selbst KI für Ihre Arbeit?“
Ihre Antwort kam schnell: „Täglich. Für E-Mails, für erste Entwürfe, für Recherchen. Ich wäre ohne sie aufgeschmissen. Aber die wirklich wichtigen Entscheidungen, die kann mir die KI nicht abnehmen. Da fühle ich mich manchmal verloren.“
Genau das ist es.
Wir leben in interessanten Zeiten für das Denken. Noch nie hatten wir so schnellen Zugang zu so viel Wissen. Noch nie konnten Maschinen uns so viel abnehmen. Und doch – oder gerade deshalb – wird eine Fähigkeit immer wichtiger: langsam zu denken.
Ich bin seit vielen Jahren selbstständige Unternehmensberaterin und Coach. Die Fragen, die mir in meiner Arbeit begegnen, sind fast nie die, die sich schnell beantworten lassen. Wenn ein Führungsteam zum dritten Mal aneinander vorbeiredet. Wenn eine brillante Managerin ihre eigenen Erfolge systematisch sabotiert. Wenn eine Organisation mit den besten Leuten immer wieder in dieselbe Falle tappt.
Diese Momente haben eines gemeinsam: Die schnelle Antwort – der Fünf-Punkte-Plan, die bewährte Methode, der Rat aus dem Internet – hilft nicht. Manchmal verschlimmert sie sogar alles.
Die gute Antwort braucht Zeit. Sie braucht Nachdenken. Sie braucht das, was der Psychologe Daniel Kahneman „System 2“ nennt: das langsame, anstrengende, bewusste Denken, das sich Zeit nimmt, Muster zu erkennen, Zusammenhänge zu verstehen, Nuancen zu erfassen. Er schrieb „Die guten Ideen kamen nicht in Minuten. Sie kamen in Monaten.”
Und genau diese Art des Denkens ist bedroht.
Die Verhaltensforscherin Teresa Amabile von der Harvard Business School hat über Jahrzehnte untersucht, wie Kreativität und Innovation entstehen. Ihre Erkenntnis: Die besten Ideen brauchen Inkubationszeit. Perioden, in denen wir nicht aktiv an einem Problem arbeiten, in denen unser Gehirn im Hintergrund Verbindungen knüpft, Muster erkennt, Lösungen formt.
Aber Inkubation braucht etwas, das in unserer Welt immer seltener wird: Zeit, in der nichts passiert. Zeit ohne Input. Zeit, in der wir nicht nach Antworten suchen, sondern sie reifen lassen.
Ich habe über die Jahre gelernt, dass ich dieser Inkubationszeit vertrauen muss. Meine wöchentlichen Artikel schreibe ich immer selbst, Wort für Wort, vollkommen ohne KI. Nicht aus Technologiefeindlichkeit. Sondern weil ich etwas brauche, das keine KI mir geben kann: den Prozess des Durchdenkens selbst.
Wenn mich eine Frage aus meiner Beratungspraxis nicht loslässt – warum scheitern manche Teams trotz aller Talente? – dann beginne ich zu recherchieren. Ich lese Studien, sammle Beobachtungen, suche nach Mustern. Und dann lasse ich es liegen. Tage. Wochen. Manchmal Monate.
Ich habe Ordner voller Paper. Digitale Lesezeichen, die ins Unendliche wachsen. Notizbücher mit Zitaten, Kritzeleien, Pfeilen und Fragezeichen. Manche Menschen sammeln Schuhe, Uhren oder Taschen. Ich sammle Forschungsergebnisse über menschliches Verhalten.
„Warum stellst du es nicht einfach online?“, fragt mich mein Mann manchmal. „Du hast doch schon alles recherchiert.“
Aber so funktioniert es nicht. Forschung muss sich setzen. Gedanken müssen reifen. Und dann – beim Spaziergang, unter der Dusche, mitten in einem völlig anderen Gespräch – fällt plötzlich alles an seinen Platz.
Ich könnte eine KI bitten, mir einen Text über Führung oder Teamentwicklung zu schreiben. Das Ergebnis wäre wahrscheinlich glatt, gut strukturiert, eloquent. Es würde vielleicht sogar ein paar der Studien zitieren, die ich selbst verwenden würde.
Aber die KI war nicht dabei, als die Geschäftsführerin mitten im Satz innehielt und flüsterte: „Oh Gott. Ich bin das Problem, oder?“. Es hat nicht die Stille danach gehört. Die Art, wie sich der Raum veränderte. Wie aus Erkenntnis Erleichterung wurde.
Es hat nicht gesehen, wie ein zerrüttetes Team nach sechs Monaten der Funkstille einen Weg zueinander fand – nicht durch eine brillante Intervention, sondern durch einen einzigen ehrlichen Satz zur richtigen Zeit.
Es kennt nicht das Ringen um die eine Formulierung, die sowohl wissenschaftlich präzise als auch für einen erschöpften Manager um elf Uhr abends verständlich ist. Das Löschen und Neuschreiben. Das Gefühl, wenn endlich der richtige Satz kommt, und man weiß: Ja. Genau das.
Meine Texte entstehen an der Schnittstelle von drei Dingen: reale Situationen aus meiner Praxis, wissenschaftliche Forschung und das langsame, oft frustrierende Durchdenken beim Schreiben. Eine KI kann zwei davon simulieren. Das dritte – das eigene Ringen, das persönliche Durcharbeiten, der Moment, in dem man selbst etwas versteht, das man vorher nicht verstanden hat – das kann sie nicht.
Meine Texte enstehen an der Schnittstelle von drei Dingen
Über die Jahre habe ich mir drei Regeln erarbeitet. Sie klingen simpel, aber sie zu befolgen ist gar nicht so leicht.
Beschäftige dich nur mit Fragen, die dich wirklich umtreiben: Nicht mit dem, was gerade trendy ist. Nicht mit dem, was alle diskutieren. Sondern mit dem, was dich nachts wachhalten könnte, wenn du es wirklich ernst nimmst. Diese Fragen haben Gewicht. Sie fordern echtes Nachdenken. Und sie lohnen die Mühe. Das gilt nicht nur fürs Schreiben. Es gilt für Entscheidungen im Job, in Beziehungen, im Leben. Die wichtigen Fragen verdienen mehr als eine schnelle Google-Suche oder einen Chat mit KI. Sie verdienen deine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Lass Gedanken reifen: Keine Schnellschüsse. Eine Studie, die ich heute finde, verwende ich vielleicht erst in drei Monaten. Ein Gedanke, der mir brilliant erscheint, braucht oft Wochen, bis er sich bewährt oder sich als Luftnummer herausstellt. Die besten Einsichten entstehen nicht am Schreibtisch. Sie kommen beim Spaziergang drei Wochen später. Sie kommen, wenn das Unbewusste Zeit hatte zu arbeiten. Man kann das nicht beschleunigen. Man kann nur den Raum dafür schaffen.
Verstehe, dass Denken ein Prozess ist, kein Produkt: Ich schreibe nicht, um fertige Gedanken zu dokumentieren. Ich schreibe, um zu denken. Jeder Satz ist ein Versuch, klarer zu sehen. Jeder Absatz ist ein Schritt näher zum Verstehen. Und manchmal – an den guten Tagen – schreibe ich einen Satz und denke: „Das wusste ich vorher nicht“. Nicht bewusst jedenfalls. Aber jetzt ist es da, und es ist wahr. Das ist der Moment, für den ich schreibe.
Die Leserin, die mir an jenem Dienstag geschrieben hatte, schrieb mir zwei Wochen später wieder. Sie hatte einen schwierigen Fall in ihrer Arbeit. Eine Entscheidung, die sie treffen musste, bei der viel auf dem Spiel stand. „Normalerweise“ schrieb sie, „hätte ich schnell entschieden. Instinkt, Bauchgefühl, ein paar Ratschläge. Aber diesmal habe ich mir eine Woche genommen. Ich habe über unser Gespräch nachgedacht. War spazieren. Hab geschlafen. Und plötzlich war die Antwort da. Die richtige. Ich hätte sie vorher nie gefunden.“ Das ist es, was langsames Denken kann. Nicht immer. Nicht für alles. Aber für die Dinge, die uns wirklich wichtig sind.
In meiner Arbeit als Beraterin sehe ich immer wieder Menschen, die verzweifelt nach schnellen Antworten suchen. Nach dem Framework, das alles löst. Nach der Methode, die garantiert funktioniert. Nach dem Experten, der ihnen sagt, was zu tun ist.
Und ich verstehe das. Wir leben in einer Zeit, die Geschwindigkeit belohnt. Die Effizienz über alles stellt. Die von uns verlangt, immer produktiv zu sein, immer Output zu liefern, immer Ergebnisse zu zeigen.
Aber die wichtigsten Dinge im Leben – die besten Entscheidungen, die tiefsten Erkenntnisse, die kreativsten Lösungen – entstehen nicht auf Knopfdruck. Sie entstehen durch geduldiges Ringen. Durch die Bereitschaft, nicht sofort zu wissen. Durch die Demut zu akzeptieren, dass manche Dinge Zeit brauchen.
Langsames Denken ist ein Akt des Widerstands gegen diese Zerstreuung. Es ist die Weigerung, sich mit der ersten Antwort zufriedenzugeben. Es ist das Vertrauen, dass Tiefe entsteht, wenn man Zeit gibt.
Neulich schickte mir ein anderer Leser eine E-Mail. „Ihr Artikel über Perfektionismus“, schrieb er, „hat mir geholfen, ein Problem zu lösen, an dem ich seit einem Jahr verzweifle. Ich habe geweint beim Lesen, weil ich mich zum ersten Mal verstanden fühlte.“
Das sind die Momente, in denen ich weiß, warum ich all das tue. Ich tue das nicht für Klicks. Nicht für Reichweite. Nicht, um produktiv zu sein oder einen Content-Plan zu erfüllen. Sondern dafür, dass eine Person – und sei es nur eine einzige – etwas versteht, das sie vorher nicht verstanden hat. Dass sie sich gesehen fühlt. Dass sie einen Weg sieht, wo vorher nur Dunkelheit war.
Ich weiß, dass meine Arbeitsweise ineffizient ist. Jeder Artikel kostet mich und meinen Mann, der alles gegenliest und die Vorschaubilder erstellt, zwölf Stunden. Manchmal mehr. Ich werde für meine Artikel auch von niemanden bezahlt. In einer Welt, die Geschwindigkeit über alles stellt, in der Content in Sekunden produziert wird, ist mein Verhalten fast schon rebellisch.
Aber ich kann nicht anders. Nicht, weil ich technologiefeindlich oder gar nostalgisch bin. Sondern weil diese Art zu arbeiten – das Sammeln, das geduldige Reifen lassen, das mühsame Durchdenken beim Schreiben – die einzige Art ist, wie ich zu Einsichten komme, die anderen auch wirklich helfen.
Und vielleicht – das ist meine leise Hoffnung – helfen diese Texte auch Ihnen. Nicht, weil die Texte perfekt sind oder gar alle Antworten parat haben. Sondern weil sie echt sind. Weil sich jemand wirklich mit einem Thema beschäftigt und Ihnen dadurch neue Blickwinkel eröffnet hat. Weil jemand gerungen hat, das auszudrücken, was schwer auszudrücken ist.
Deshalb schreibe ich weiter.
Woche für Woche. Wort für Wort. Und immer selbst.
Manchmal, wenn ich frühmorgens am Schreibtisch sitze und mit einem Satz ringe, der nicht kommen will, denke ich: Das ist total verrückt. Das ist viel zu viel Aufwand. Aber dann ist dieser eine Satz plötzlich da, wie aus dem Nichts. Und ich verstehe plötzlich etwas, das ich vorher nicht verstanden habe. Und dann weiß ich wieder, warum ich tue, was ich tue.

