Das Problem mit der Achtsamkeit

Ein häufiger Einstieg von Führungskräften in meinen Coachings ist der Punkt, an dem sie verzweifeln, weil sie zu viel Zeit in der Arbeit verbringen und zu wenig Zeit für ihre Familie haben. Kein Wunder, dass es in der Familie dann zu vielen Problemen kommt. Ratschläge, wie mehr von Zuhause zu arbeiten, einen Jobwechsel zu überdenken oder mit weniger Geld auszukommen, sind meiner Erfahrung nach in dieser Situation nicht hilfreich. Denn auf all diese werden sofort gute Gegenargumente geliefert. Der Grund dafür liegt zumeist darin, dass die Ursache nicht im Management ihrer Aufgaben zu finden ist, sondern dass sie einfach nicht gerne Zuhause sind. Sie verbinden damit unangenehme Gefühle. Das Zuhause zu meiden ist daher eine gute Abwehrstrategie.

Viele vermeiden unangenehme Gefühle, in dem sie sich davon ablenken. Wenn eine Aufgabe oder eine Tätigkeit als langweilig, traurig, stressig oder beängstigend wahrgenommen wird, ist es schwer in dieser Situation zu bleiben und die Gefühle auszuhalten. Und auch wenn Sie es für einen kurzen Augenblick schaffen, wirklich präsent im Moment zu sein, wird es nicht unbedingt angenehm sein. Es ist viel einfacher und verlockend, sich mit angenehmen Gedanken, Gefühlen und Dingen abzulenken.

Achtsamkeit ist die Praxis, auf das zu achten, was im gegenwärtigen Moment geschieht. Dabei ist man sich bewusst, was man erlebt, während man es erlebt, und akzeptiert ohne Urteil, was auch immer auftaucht - sei es ein Gedanke, ein Gefühl oder eine Körperempfindung. Bei Achtsamkeit geht es im Grunde darum, die Herausforderungen des Lebens anzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das Problem laut Forschung ist nicht, dass Achtsamkeit als solches praktiziert wird, sondern wie es vermarktet wird. Das populäre Konzept der Achtsamkeit fokussiert meist nur den bloßen Stressabbau.

Unsere narzisstische Kultur hat eine ungesunde, verzerrte und zu stark vereinfachte Version von Achtsamkeit entwickelt. Achtsamkeit ist zu einem Allzweckpflaster geworden, dass dazu genutzt wird, tiefe Wunden zu verdecken, anstatt die Grundursache zu beheben. Achtsamkeit falsch angewendet hilft uns, dass wir uns an den Status quo anpassen, anstatt ihn zu verändern.

Und trotzdem ist es wichtig, achtsam zu sein. Es ist wichtiger sich den tatsächlichen Problemen zu stellen, die letztlich zu beispielsweise einem hohen Arbeitspensum führen, als über kurz oder lang im Burnout zu landen. Noch dazu führt die Vermeidung von Gefühlen, die unangenehm sind, dazu, dass diese schlimmer und nicht besser werden. Der Umgang mit ihnen ist eine lohnendere, wenn auch vielleicht entmutigendere Strategie.

Nun ist Achtsamkeit der Psychologie nach nichts, das dem Mensch natürlich obliegt. Der Mensch als Spezies ist einfach nicht darauf ausgelegt, im Hier und Jetzt zu sein. Wir machen mentale Zeitreisen, um über neue und andere Szenarien nachzudenken und unsere Vergangenheit und Zukunft zu überdenken.

Die Neurowissenschaften geben uns Hinweise darauf, warum wir in die Zukunft oder Vergangenheit fliehen. Das Abschweifen der Gedanken verringert die Aktivität in den Gehirnregionen, die an der Verarbeitung körperlicher Schmerzen beteiligt sind. Unser psychischer Schmerz wird in denselben Regionen verarbeitet wie unser körperlicher Schmerz. Die Vermeidung von Achtsamkeit ist also eine wirksame Selbstverteidigungsstrategie für diejenigen, die psychisch leiden.

Wenn Sie aber wirklich eine Änderung bewirken wollen, müssen Sie sich der Quelle Ihres Leidens direkt stellen. Sich selbst und den unangenehmen Gefühlen aus dem Weg zu gehen, funktioniert in den allermeisten Fällen nicht - zumindest auf lange Sicht. Das Abschweifen der Gedanken zur Vermeidung von Emotionen macht die Dinge nicht besser, sondern schlimmer.

Es ist wichtig, dass Sie sich bewusst machen, dass Achtsamkeit richtig praktiziert unglaublich wichtig für die Selbstentwicklung ist. Wenn Sie sich dem Hier und Jetzt widmen, bedeutet das nicht, sich mit einigen Problemen zu beschäftigen und alles andere damit auszublenden. Achtsamkeit bedeutet, sich selbst als Teil eines größeren Ganzen zu erkennen und die eigenen Gefühle ohne Urteil zu beobachten und anzunehmen. Vergessen Sie nicht: Auch negativ wahrgenommene Emotionen sind Teil unseres Lebens - sie werden immer wieder da sein und wieder verschwinden.

Es wird immer Zeiten geben, in denen Sie sich von Ihren Problemen ablenken - schließlich sind Sie nur ein Mensch. Achtsamkeit richtig praktiziert wird auch weh tun, weil das Leben nun mal aus Höhen und Tiefen besteht. Am Anfang wird es vermutlich schmerzhaft sein, aber wenn Sie sich Ihren wahren Probleme stellen, stehen die Chancen gut, dass Sie einen Weg finden, diese zu lösen. Vielleicht möchten Sie es nicht, aber Sie sollten trotzdem nach Hause kommen und sich Ihren Schmerzen stellen.