Wenn sich falsche Informationen schneller verbreiten als die Wahrheit

Wissenschaftler auf der ganzen Welt beschweren sich über die zunehmende Verbreitung von Fehlinformationen, Verschwörungstheorien und dem steigenden Misstrauen gegenüber Experten. Falsche Informationen und Unwahrheiten machen es viel schwieriger, politische, klimatische oder kulturelle Probleme zu lösen, weil sie die Suche nach einer allgemein anerkannten Wahrheit durchkreuzen. Dabei braucht die Wahrheitsfindung sogar einen gesunden Diskurs.

Das eigentliche Problem der Verbreitung von falschen Informationen steckt meiner Meinung nach viel mehr in der Art und Weise, wie wir generell Wissen aufnehmen und weitergeben. So entstehen zwar viele Falschinformationen, um Menschen bewusst in die Irre zu führen. Die meisten Irrtümer jedoch beruhen auf falschen Informationen oder dem Ergebnis unabsichtlicher Ungenauigkeiten. Kennen Sie zum Beispiel die Darstellung der Geschmäcker auf der Zunge?

1901 schrieb der deutsche Physiologe David Hänig seine Dissertation über die verschiedenen Geschmäcker, die wir auf der Zunge wahrnehmen. Seine Arbeit wurde damals nur von wenigen Personen verstanden: Einerseits mussten sie die deutsche Sprache beherrschen und andererseits mit Hänigs Spezialgebiet vertraut sein. Es begann ein „Stille-Post“-Spiel, das dazu führte, dass sich mit jeder Verbreitung der Zungenkarte auch Hänigs Aussagen und Ergebnisse veränderten.

In seiner Arbeit untersuchte Hänig, wann wir welchen Geschmack auf unserer Zunge wahrnehmen und wie sich die Geschmacksempfindlichkeit verändert. Dazu beträufelte er mit entsprechenden Substanzen die Zunge und bestimmte die notwendigen Mengen, um einen Geschmack hervorzurufen. Seine Ergebnisse stellte er in der Zungenkarte dar. 1942 veröffentlichte der amerikanische Psychologe Edwin Boring in seinem Buch Hänigs Forschung in Form der heute noch populären Geschmackskarte. Auch heute findet man noch an vielen Stellen diese Abbildung, die suggeriert, dass wir Süße nur an der Zungenspitze wahrnehmen, dass wir Bitterkeit weit hinten auf der Zunge schmecken und am Rand der Zunge die Bereiche für salzigen und sauren Geschmack sitzen. Es gibt zwar tatsächlich Bereiche, in denen sich mehr Geschmacksknospen befinden als anderswo, aber wir schmecken jeden Geschmack überall auf der Zunge.

Falschinformationen sind oft unserem Bedürfnis nach anschaulichen Erklärungen unserer Umwelt geschuldet. Eine Geschichte, die gut erzählt und noch dazu mit starken Bildern untermalt ist, ist schwierig zu verändern – selbst wenn neue Erkenntnisse existieren. Seit den 1960er Jahren existieren viele Untersuchungen, die die populäre Sicht der Zungenkarte widerlegen. Trotzdem bleibt das Bild aufrecht: Für ein Experiment sollten Kinder die Geschmacksbereiche auf ihrer Zunge identifizieren und mit der „offiziellen” Karte vergleichen. Als sie die Geschmacksbereiche allerdings nicht identifizieren konnten, waren die Kinder davon überzeugt, dass sie das Experiment falsch durchgeführt haben - nicht, dass die ursprüngliche Idee falsch war. Zweifel muss daher ein integraler Bestandteil der Wissenschaft sein - gerade bei Dingen, die man für längst etabliert hält.

Unser Problem betrifft aber nicht nur die Art und Weise, wie wir Wissen generieren und auch weitergeben, sondern vor allem unsere Einstellung zum Wissen. Wir präsentieren Wissen oft mit einer Haltung, dass wir die Antworten bereits kennen - scheinbar noch bevor die Frage auftaucht. Wenn neue Fakten ans Licht kommen, scheint der wissende Mensch oft unbeeindruckt. Diese Einstellung erschwert aber weitere Nachforschungen zum Unbekannten. Wenn sich jemand sicher ist, dass er oder sie bereits alle Fakten kennt, übersieht diese Person neue Hinweise – auch wenn sie direkt vor der Nase liegen. Viel zu schnell werden dann voreilige Schlussfolgerungen gezogen, die als gegeben gesehen werden.

Wir denken gerne, dass wir das gesamte menschliche Wissen immer zur Hand haben, auf einem Gerät in unserer Tasche. Tatsächlich zeigt das Informationszeitalter jedoch, wie wenig wir eigentlich wirklich wissen. Es gibt so viel, was wir wissen könnten oder was wir meinen wissen zu müssen, dass es oft am einfachsten ist, einfach so zu tun, als ob wir es bereits wüssten. Wenn aber alle so handeln, bleiben wir in unserer Unwissenheit gefangen. Das führt dazu, dass wir mit Unwahrheiten und ihren Folgen leben müssen – von der Pest über politische Unruhen bis hin zu persönlichen Tragödien.

Um falsches Wissen zu überwinden, brauchen wir meiner Meinung nach eine demütige und neugierigere Haltung. Das bedeutet nicht, dass wir Unwissenheit vortäuschen sollten. Wir sollten vielmehr die Grenzen dessen, was wir wirklich wissen, erkennen und akzeptieren und neugierig auf das sein, was wir (noch) nicht wissen. Vor allem sollten wir endlich den Glauben aufgeben, dass wir als Einzige unter allen immer Recht haben und das richtige Wissen „besitzen“.

Letztlich geht es darum offen für die Wunder und Kuriositäten unserer Welt zu sein. Die Welt ist viel komplexer als es oftmals auf den ersten Blick erscheint. Wenn Sie also wieder eine griffige Grafik sehen oder eine überraschende Geschichte hören, begegnen Sie ihr mit gesunder Skepsis. Denken Sie daran, dass Irrtümer in allen Bereichen einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen können. Und vergessen Sie nicht: Es sind oft die unterhaltsamsten Geschichten, denen wir häufig begegnen, die nicht der Realität entsprechen. Nicht selten ist die Wahrheit ziemlich langweilig.