Vor einigen Monaten begann ich eine private Weiterbildung. Das Ganze bewegt sich in einem ziemlich technischen und komplexen Universum, das für mich oft rätselhaft erscheint. Selbstzweifel lauern an jeder Ecke und ich ertappe mich dabei, wie ich mir selbst immer wieder in die Quere komme. Aber dann kam dieser Moment, der mich wirklich zum Nachdenken brachte. Mein Lehrer teilte mir mit, wie er mich offiziell bewertete: Er schrieb in die allgemeine Beurteilung “Sie zerpflückt sich selbst, ist äußerst selbstkritisch, obwohl sie wirklich hervorragend ist. Wären diese Selbstzweifel nicht, könnte sie deutlich mehr erreichen”. Diese Worte trafen mich unerwartet, denn ich habe nicht erwartet, dass meine innere Kritik sich so deutlich im Außen zeigt.
Es gibt ein Phänomen, das in der Psychologie gut untersucht ist: Gesunde Menschen – also keine Narzissten oder Soziopathen – neigen dazu, ihre Schwächen stärker zu betonen als ihre Stärken. Die meisten von uns erleben Selbstkritik entweder in Form von vergleichender Selbstkritik, bei der wir uns negativ mit vermeintlich überlegenen Anderen vergleichen, oder in Gestalt einer verinnerlichten Selbstkritik, wenn wir unseren eigenen hohen Erwartungen nicht gerecht werden und uns ständig als Versager fühlen.
Es gibt sogar einen Begriff dafür, wie wir uns selbst im Vergleich zu anderen sehen: die „Self-Other Knowledge Asymmetry“ (SOKA). Dieses Modell besagt, dass einige unserer Persönlichkeitsmerkmale für uns selbst offensichtlicher sind („offener Bereich“), während andere von anderen Personen besser wahrgenommen werden („blinder Fleck“). Dann gibt es Merkmale, die nur wir selbst sehen können („verborgener Bereich“), und schließlich gibt es Eigenschaften, die weder für uns noch für andere sichtbar sind („unbekannter Bereich“). Zum Beispiel können wir Neurotizismus, also die Tendenz, Emotionen kontrolliert zu zeigen, selbst gut einschätzen, während unsere engsten Vertrauten unsere Intelligenz besser beurteilen können als wir selbst. Extraversion hingegen ist etwas, bei dem wir selbst eine ähnliche Einschätzung haben wie andere.
Viele von uns neigen nun dazu, diese Asymmetrie unbewusst zu verstärken, indem wir glauben, dass andere uns negativer wahrnehmen als sie es tun – vor allem, wenn wir unsere Schwächen zugeben. Die meisten von uns sind sehr streng mit sich selbst, verbergen die eigenen Unvollkommenheiten, zeigen aber ironischerweise anderen gegenüber viel Verständnis für deren Fehler. Mehr noch: Die Offenbarung der Unvollkommenheit anderer Menschen betrachten wir als charmant und sympathisch.
Soziale Medien verstärken dieses Problem. Sie ermutigen uns, nur die sonnigen und selbstschmeichelnden Seiten unseres Lebens zu zeigen und die anderen auszublenden: Wir lächeln strahlend in die Kamera nach einer Bergbesteigung, sind in Feierlaune nach einem erfolgreichen Tag und feiern öffentlich unsere Siege. Dadurch hinterlassen wir den Eindruck, dass wir unser Leben wunderbar im Griff haben und in Dauerschleife glücklich sind. Vom Wutausbruch oder der persönlichen Tragödie, die sich davor abgespielt hat, ahnen die meisten nichts. Würde unser Hirn automatisch unsere Updates posten, kämen eher Posts wie „Heute ist schon wieder im Meeting versagt. #heavyday“. Stattdessen vergleichen wir unsere negative Selbstwahrnehmung mit den vorab sorgfältig ausgewählten Momenten aus dem Leben anderer. Dieser Vergleich führt zwangsläufig dazu, dass wir uns unwohl, unsicher und unglücklich fühlen.
Es gibt eine Strategie, die dabei hilft, dass wir uns weniger unwohl fühlen oder uns weniger unserer vermeintlichen Schwächen schämen: Denken Sie einfach daran, dass Sie die einzige Person sind, die wirklich in Ihren Kopf schauen kann. Mehr noch: Auch wenn es vielleicht nicht so scheint, so gibt es dennoch niemanden, der nicht mit seinen eigenen, inneren Dämonen zu kämpfen hat. Diese Erkenntnisse können Ihnen dabei helfen, Ihre Unvollkommenheiten in einem neuen Licht zu betrachten. Zeigen Sie Mitgefühl für sich selbst und teilen Sie Ihre eigenen negativen Gefühle. Das öffnet Türen zu tieferen Gesprächen und sorgt dafür, dass sich alle besser fühlen.
Offen über die eigenen Probleme zu sprechen, ist eine Form des Selbstmitgefühls. Es hilft dabei, Schmerz als normalen Teil des Menschseins zu akzeptieren, anstatt sich selbst ständig negativ zu bewerten. Studien zeigen, dass Selbstmitgefühl die mentale Gesundheit stärker verbessert als der Versuch, das Selbstwertgefühl zu steigern. Beim nächsten Mal, wenn Sie sich nervös fühlen, gestehen Sie das anderen, anstatt sich selbst dazu zu drängen, selbstsicher zu sein. Die Wahrscheinlich, dass sie Sie als sympathisch und menschlich empfinden werden, ist sehr hoch - und das ist ein Geschenk für beide Seiten.
Ich selbst bin noch dabei, meine Selbstzweifel zu besiegen, denn nach all den Jahren ist das ein langer Prozess. Zwar bin ich mir meiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst, aber ich weiß, dass es Wege gibt, wie wir unsere Selbstwahrnehmung verändern können: Indem wir Mitgefühl für uns und unsere Mitmenschen entwickeln und unsere Unzulänglichkeiten als menschliche Eigenschaften sehen.
Letztlich geht es darum, unsere Selbstkritik und Verletzlichkeit zu akzeptieren und gleichzeitig zu wissen, dass wir alle im selben Boot sitzen. Diese Erkenntnis ändert sicher nicht alles, aber es ebnet den Weg zu einer besseren Selbstwahrnehmung und einem tieferen Verständnis für andere. Wir können unsere Unvollkommenheit niemals vollständig beseitigen, aber wir können lernen, sie anzunehmen und sie als unsere Eintrittskarte zu neuen Erkenntnissen zu betrachten. Sie verdienen, wie jeder andere auch, einen liebevollen Umgang – alleine wegen der einfachen Tatsache, dass Sie am Leben sind. Gönnen Sie sich eine Pause. Passen Sie gut auf sich auf. Die Dinge laufen vielleicht nicht immer so, wie Sie es möchten, aber Sie verdienen trotzdem Liebe und Respekt. Das tun wir alle.