In einer meiner letzten Beratungen habe ich in der Pause mit einer Führungskraft gesprochen, die sich selbst als introvertiert bezeichnet. Er beschwerte sich bei mir, dass der moderne Arbeitsplatz im Grunde für Extravertierte gemacht ist. Studien geben dieser Aussage recht: So werden Extravertierte in der Regel besser bezahlt, schneller befördert und von anderen positiver eingeschätzt. Glaubt man jahrzehntelanger Forschung, sind Extravertierte auch durchschnittlich glücklicher. Sie berichten von einem höheren allgemeinen Wohlbefinden und häufigeren Momenten der Freude. Daher ist es kaum verwunderlich, dass viele extravertierter sein wollen, und dass Mitarbeiter, die ihre Karriere vorantreiben möchten, oft dazu ermutigt werden, sich an extravertierten Aktivitäten wie Networking und Konferenzen zu beteiligen. Ich glaube allerdings, dass das nicht notwendig ist bzw. das ein generelles Umdenken erforderlich wäre.
Introvertiertheit ist ein weit verbreitetes Merkmal. Im Gegensatz zu Schüchternheit, bei der es um die Angst vor negativer Beurteilung geht, wird Introvertiertheit als eine Vorliebe für ruhige, weniger anregende Umgebungen definiert. Psychologen betrachten Intro- bzw. Extravertiertheit neben Verträglichkeit, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus als eines der sogenannten „Big Five“-Persönlichkeitsmerkmale. Der Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung schlug bereits in den 1920er Jahren vor, Menschen entlang einer Introvertiert-Extravertiert-Achse zu differenzieren. Jungs Forschung nach richten Introvertierte ihre Aufmerksamkeit lieber nach innen, auf ihre eigenen Gefühle und Gedanken, soziale Interaktionen kosten ihnen Energie. Im Gegensatz dazu fokussieren Extravertierte ihre Aufmerksamkeit nach außen, gewinnen Energie aus sozialen Interaktionen und verlieren Energie in Zeiten des Alleinseins. Diese stereotypischen Vorstellungen haben sich bis heute gehalten.
In den 1960er Jahren wurde Jungs Theorie vom Deutschen Psychologen Hans Eysenck weiterentwickelt. Eysenck fand eine physiologische Erklärung für den Unterschied zwischen Introvertierten und Extravertierten. Er sagte, dass Extravertierte im Vergleich zu Introvertierten ein niedrigeres Grundniveau an kortikaler Erregung aufweisen, was dazu führt, dass sie nach externen Stimulationen suchen, um ihre Motivation und Aufmerksamkeit zu steigern. Im Gegensatz dazu führt das höhere Grunderregungsniveau introvertierter Menschen dazu, dass sie sich zurückziehen.
Nun sind Menschen generell von Natur aus soziale Wesen, die die Gesellschaft anderer suchen und auch brauchen. Die Forschung argumentiert, dass Extravertierte vermehrt und proaktiv Kontakt zu anderen suchen und daher glücklicher sind. Die Schlussfolgerung, dass Introvertierte die Einsamkeit bevorzugen und oft Probleme mit der Geselligkeit haben, bedeutet allerdings nicht, dass sie glücklicher sind, weil sie Kontakt meiden. Es bedeutet nur, dass sie etwas bevorzugen, das sie ansonsten unglücklich machen würde.
Manche verärgert diese Vorstellungen. Sie meinen, dass diese Vorurteile von einem Mangel an kultureller Tiefe zeugen. Die Autorin Susan Cain schätzt, dass ein Drittel der Bevölkerung extravertiert, ein weiteres Drittel introvertiert und das letzte Drittel irgendwo dazwischen, also ambivert, ist. Cain erwähnt in ihrem Buch verschiedene Leistungen, die von Introvertierten erzielt wurden, wie beispielsweise Google oder die Schwerkrafttheorie. Sie meint, dass die Bewunderung und Belohnung von Extravertiertheit nicht nur ungerecht wäre, sondern auch den Fortschritt behindern würde.
Ich bin davon überzeugt, dass beide Extreme ihre Vor- und auch Nachteile haben und wir immer voneinander lernen können. Nehmen wir als Beispiel das Erreichen von Zielen: Es gilt seit langem der Grundsatz, dass wir unsere Ziele eher erreichen, wenn wir diese anderen gegenüber formuliert haben. Die extravertierte Angewohnheit, so gut wie jedem, dem man begegnet, von seinen Zielen und Träumen zu erzählen, erhöht demnach die Wahrscheinlichkeit, die Ziele auch zu realisieren. Introvertierte neigen aber dazu, enge Einzelfreundschaften zu pflegen. Aber auch mit wenigen, ausgewählten Personen könnten sie ihre Träume teilen und so eine Art Verpflichtung eingehen.
Innige Freundschaften sind nicht nur gut, um die eigenen Träume zu verwirklichen. Sie sind auch ein direkter Produzent für Wohlempfinden. Insbesondere der Aufbau enger Freundschaften mit Menschen, von denen man nichts zu gewinnen hat, ist eine große Quelle der Befriedigung und des Glücks. Untersuchungen zeigen, dass Extravertierte eher viele Freundschaften mit geringer Tiefe mit anderen Extravertierten eingehen. An dieser Stelle könnten Extravertierte von Introvertierten lernen und beginnen, ein paar wenige, dafür umso tiefere Freundschaften zu pflegen.
Über die Besonderheiten von Introversion und Extraversion hinaus gibt es eine wichtige Lektion: Menschen zu beobachten und von ihnen zu lernen, die ganz anders sind als man selbst, ist eine großartige Möglichkeit das eigene Selbst zu erweitern und zu wachsen. Keiner von uns hat Allwissen für sich gepachtet und die Umgebung mit Menschen, die anders agieren, inspiriert nicht nur zu neuen Ideen, sondern steigert die eigene Lebenszufriedenheit. Introversion ist nichts, das man reparieren kann – sondern eine Quelle menschlicher Vielfalt, die viele Stärken mit sich bringt – genauso wie Extraversion. Der Weg, unser persönliches und kollektives Wachstum voranzutreiben, besteht nicht darin, diese Vielfalt zu beseitigen, sondern sie anzunehmen.