Warum Sicherheit allein nicht reicht — Ingrid Gerstbach - Design Thinking

Warum Sicherheit allein nicht reicht

Jahrelang habe ich die Bedeutung psychologischer Sicherheit in Teams gepredigt. Die Forschung bestätigt das auch: Wenn Menschen sich sicher genug fühlen, authentisch zu sein und Risiken einzugehen, leisten sie Außergewöhnliches. Doch diese Einsicht greift ein wenig zu kurz. Sicherheit allein – ohne die transformative Kraft der Herausforderung – führt zu Stagnation.

Die Psychologie lehrt uns durch Vygotskys Konzept der „Zone der proximalen Entwicklung”, dass wir am besten lernen, wenn wir uns leicht außerhalb unserer Komfortzone befinden – aber nicht so weit, dass wir von Angst überwältigt werden. Es ist wie bei einem Kind, das schwimmen lernt: Es braucht sowohl die Sicherheit des Schwimmrings als auch das tiefere Wasser, das seine Fähigkeiten herausfordert.

Diese Balance spiegelt sich in der Bindungstheorie wider. Sichere Bindungen bieten uns einen „sicheren Hafen”, zu dem wir zurückkehren können, UND eine „sichere Basis”, von der aus wir die Welt erkunden können. Beides ist notwendig – ohne Hafen gibt es Unsicherheit, ohne Erkundung keine Entwicklung.

Neurobiologisch betrachtet wird diese Dualität durch zwei Systeme repräsentiert: Das parasympathische Nervensystem, das Ruhe und Sicherheit vermittelt, und das sympathische Nervensystem, das uns aktiviert und für Herausforderungen vorbereitet. Optimale Leistung entsteht, wenn beide in einem dynamischen Gleichgewicht stehen – weder chronischer Stress noch völlige Entspannung führen zu Spitzenleistungen oder tiefem Wohlbefinden.

Betrachten wir das durch die Linse zwischenmenschlicher Beziehungen: Eine Freundschaft, die uns vollständige Akzeptanz bietet, aber keine Anreize zum Wachstum schafft, wird letztlich unbefriedigend. Eine Partnerschaft, die bequem ist, aber keine Evolution ermöglicht, verkümmert. Wie ein Trainer, der seinen Athleten eine fehlerfreundliche Umgebung bietet, ohne sie an ihre Grenzen zu bringen – das Ergebnis ist bestenfalls okay.

Die wirklich wertvollen Menschen in unserem Leben verkörpern diese duale Natur: Sie bieten bedingungslose Akzeptanz und fordern uns gleichzeitig liebevoll heraus, über uns hinauszuwachsen.

Ich denke an meinen Mann. Er vermittelt mir stets das Gefühl, dass ich am richtigen Ort bin und wertvoll für die, mit denen ich arbeite – doch er akzeptierte nie meine erste Idee eines Workshop-Designs oder einen ersten Entwurfs eines Buchkapitels. “Ich fordere dich heraus, weil ich weiß, dass du es kannst”, sagt er. Diese Kombination aus tiefer Sicherheit und hohen Erwartungen brachte mich weiter als jede Einzelkomponente es je vermocht hätte.

Die moderne Organisationspsychologie hat dieses Prinzip längst erkannt: Googles berühmte „Project Aristotle”-Studie identifizierte psychologische Sicherheit als Schlüsselmerkmal erfolgreicher Teams. Doch die besten Führungskräfte wissen, dass das in Wahrheit nur die halbe Miete ist. Sie schaffen eine Umgebung, in der Menschen sich sicher UND herausgefordert fühlen.

Was außergewöhnliche Teams von mittelmäßigen unterscheidet – und was erfüllte Leben von unbefriedigenden trennt – ist genau diese Balance:

  • Scheitern ist erlaubt, aber Wachstum wird erwartet

  • Unsere Stimme wird gehört, unsere Annahmen werden aber hinterfragt

  • Wir werden akzeptiert, wie wir sind, und inspiriert, zu werden, was wir sein könnten

  • Wir erfahren Unterstützung und werden zur Verantwortung gezogen

Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi beschrieb den Zustand des „Flow” – jenes tiefe Eintauchen in eine Tätigkeit, bei der die Zeit zu verschwinden scheint – als idealen Zustand für Produktivität und Erfüllung. Flow entsteht, wenn die Herausforderung perfekt zu unseren Fähigkeiten passt: Zu leicht führt zu Langeweile, zu schwer zu Angst.

Die gleiche Dynamik gilt für unsere Beziehungen und unser persönliches Wachstum: Wir brauchen ein Niveau der Herausforderung, das uns fordert, aber nicht überwältigt – eingebettet in ein Fundament der Sicherheit.

Diese Prinzipien gelten universell – im Beruf wie im Privatleben. Die besten Führungskräfte, Freunde und Partner schaffen einen sicheren Hafen, von dem aus wir mutig in unbekannte Gewässer aufbrechen können.

Wie kultivieren wir diese Balance? Vier Praktiken haben sich bewährt:

  1. Unterscheiden Sie zwischen produktiven und unproduktiven Fehlern. Nicht jedes Scheitern bringt wertvolle Erkenntnisse. Reflektieren Sie, welche Fehler Sie voranbringen und welche Sie vermeiden sollten. Carol Dwecks Forschung zur „Growth Mindset” zeigt, dass nicht das Scheitern an sich wertvoll ist, sondern die Art, wie wir darauf reagieren und was wir daraus lernen.

  2. Umgeben Sie sich mit Menschen, die Ihre Komfortzone respektvoll erweitern. Diese seltenen Beziehungen sind unbezahlbar. Die soziale Netzwerkforschung von Nicholas Christakis und James Fowler demonstriert, dass unser soziales Umfeld unsere Gewohnheiten, Überzeugungen und sogar unsere Gesundheit stark beeinflusst. Wählen Sie Ihre Umgebung bewusst.

  3. Akzeptieren Sie, dass echte Sicherheit nicht bedeutet, dass alles akzeptabel ist. Sie entsteht vielmehr aus dem Wissen, dass unsere Handlungen Konsequenzen haben – und wir trotzdem geliebt werden. Die positive Psychologie nennt das „bedingungslose positive Wertschätzung” – nicht zu verwechseln mit bedingungsloser Akzeptanz jedes Verhaltens.

  4. Setzen Sie sich klare persönliche Standards. Sicherheit ohne Ansprüche führt zu Selbstzufriedenheit, nicht zu Erfüllung. Der Gestalttherapeut Fritz Perls formulierte es treffend: „Angst ist der Raum zwischen dem Jetzt und dem Dann”. Durch klare Standards verringern wir diese Lücke und schaffen eine Orientierung für unser Wachstum.

Diese Dynamik zeigt sich überall: Muscle Growth erfolgt durch Mikroverletzungen und Erholung. Kognitive Entwicklung erfordert kognitive Dissonanz – jenes unbequeme Gefühl, wenn neue Informationen unsere bestehenden Überzeugungen herausfordern. Emotionale Reife entsteht durch die Konfrontation mit schwierigen Gefühlen unter sicheren Bedingungen. Sicherheit ist nie das Ziel – sie ist das Fundament, auf dem Veränderung stattfinden konnte.

Diese Erkenntnis enthüllt eine tiefere Wahrheit: Sicherheit ohne Wachstum ist keine echte Sicherheit – sondern eine komfortable Illusion, die uns unseres Potenzials beraubt. Wahre Sicherheit entsteht erst, wenn wir wissen, dass wir fallen können und wieder aufstehen werden – stärker als zuvor.

In unserer Suche nach psychologischer Sicherheit – für uns selbst und andere – sollten wir nicht vergessen, dass der wahre Zweck der Sicherheit nicht darin besteht, uns vor Herausforderungen zu schützen, sondern uns zu befähigen, ihnen zu begegnen. Der sichere Hafen ist nicht der Ort, an dem das Schiff für immer ankert, sondern der Ort, an dem es auftankt und repariert wird – bevor es wieder in See sticht.

Die Psychologin Virginia Satir sagte einmal: „Das Leben ist nicht so, wie es sein sollte. Es ist so, wie es ist. Die Art, wie du damit umgehst, macht den Unterschied”. Die Balance zwischen Sicherheit und Herausforderung zu finden, ist vielleicht die wichtigste Kunst für ein erfülltes Leben und erfolgreiche Teams – sie ist die Brücke zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte.