Stellen Sie Kindern bloß nicht diese Frage!

„Was willst du denn werden, wenn du groß bist?“ Als ich neulich in einer Arztpraxis wartete, hörte ich, wie eine ältere Dame einem Kind diese Frage stellte. Das Kind kauerte nervös an Mamas Hand, versteckte sich hinter ihr und wand sich. Sämtliche Personen in der Arztpraxis starrten gespannt auf den kleinen Bub, der endlich mit der Antwort schüchtern die Spannung mit „Astronaut“ auflöste und so ein Lächeln in die Gesichter der umstehenden Menschen zauberte.

Jeder kennt diese Frage. Den meisten von uns wurde sie in regelmäßigen Abständen gestellt, seit sie drei oder fünf Jahre alt waren. Ich bezweifle stark, dass sich die Fragensteller tatsächlich für die Antwort interessiert. Vielmehr wird sie kleinen Kindern gestellt, um niedliche Antworten zu hören und so ein Bild vom möglichen nächsten Faschingskostüm zu bekommen – wie Ballerina, Cowboy oder eben Astronaut. Die Frage wird als harmlos abgetan. Das ist sie aber keineswegs.

Während wir heranwachsen, wird uns diese Frage auf verschiedene Weisen immer wieder gestellt. So müssen wir uns nach der Grundschule bereits für einen Weg entscheiden: Wollen wir in das Gymnasium wechseln oder sollen wir einen Ausbildungsberuf wählen? Und wenn ja welchen? Wenn wir das Abitur machen - was sollen wir danach Studieren? Aus dieser einst niedlichen Frage mit der Zeit eine Frage, die den Schlaf raubt. Die Menschen beginnen, keine Alternativen mehr zuzulassen. Oder dass sie hören auf, zu groß träumen. Manches Mal geht es auch in die andere Richtung und sie beginnen zu unrealistisch zu denken. Auch das ist gefährlich, weil sich der einstige Traumjob später auch als Albtraum entpuppen kann, aber keinen Ausweg in Sicht ist, weil sie sich damals nicht getraut haben, gedanklich einen zuzulassen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin jemand, der diese Frage immer nervös machte. Ich konnte sie nie eindeutig beantworten. Nicht, weil ich keine Interessen hatte. Im Gegenteil - es waren immer viel zu viele. So wollte ich zuerst Detektiv werden – wie in der romantischen Darstellung der Edgar-Wallace-Romane. Als ich in der Schule war, wollte ich Ärztin werden, aber meinen detektivischen Ansatz nicht weglassen. In der Oberstufe kam der Wunsch dazu, Marketing zu studieren. Im Studium selbst entschied ich mich dann für den Weg der Psychologin und Psychotherapeutin.

In meiner heutigen Arbeit als Unternehmensberaterin profitiere ich von all meinen Ausbildung und Berufswünschen. Ich bin Detektivin, weil ich den Dingen und Ursachen auf den Grund gehe. Ich weiß, wie ich Menschen überzeugen kann, die Angst vor Veränderungen haben, weil ich Marketing und Psychologie studiert habe. Und ich merke schnell, wann ich intervenieren muss, damit Situationen nicht eskalieren. Kein einziger Bildungsweg hat mich irgendwie aufgehalten oder war im Rückblick gesehen sinnlos.

Ich bin jedes Mal erstaunt, wenn Menschen sich von Anfang an sicher sind, wohin ihr beruflicher Weg sie führen wird. Am Anfang war ich sogar etwas neidisch auf ihre Entscheidungsfreudigkeit. Ich begann mein Verhalten zu entschlüsseln und erkannte alsbald ein Muster: Sobald eine Sache mein Interesse weckt, tauche ich darin ein und versinke darin. In diesen Momenten bin ich vollkommen überzeugt, dass ich endlich das eine gefunden habe, das funktioniert. Den Job, den ich bis zu meinem Lebensende ausüben möchte. Aber irgendwann kommt dann jedes Mal dieser eine Moment, an dem ich beginne, mich zu langweilen. Zunächst versuche ich trotzdem dran zu bleiben – schließlich habe ich schon viel Zeit und Energie darin investiert, manchmal auch viel Geld. Irgendwann überwiegt letztlich das Gefühl der Langeweile und die Reise geht wieder weiter.

Dieses Muster löste zu anfangs große Ängste in mir aus. Ich war nicht sicher, wie ich auch nur eines meiner Interessen beruflich umsetzen könnte. Ich dachte, dass ich irgendwann etwas auswählen, alle anderen Interessen verleugnen und mich schließlich der Monotonie ergeben müsste. Das verursachte eine Art Schnappatmung in mir, denn wenn ich mich für eine Sache entscheide, dann müsste ich die anderen ja konsequenterweise fallen lassen. So wie alle anderen das scheinbar auch tun. Ein anderer Grund für meine Ängste lag in der Sorge, dass etwas nicht stimmte – dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich hatte Sorge, dass ich unter einer Art Bindungsangst litt, einfach nur nicht intelligent genug war oder mich selbst aus Angst vor meinem eigenen Erfolg sabotierte.

Es gibt etwas sehr Interessantes, das Sie in unserer Gesellschaft beobachten können: Menschen, die sich für viele Dinge interessieren, bekommen schnell ein Problem, denn sie passen einfach nicht in das bestehende System. Es wird ihnen suggeriert, dass niemand recht etwas mit ihnen anzufangen weiß. Vielleicht sind sie nicht diszipliniert genug oder einfach zu dumm. Die Person selbst beginnt dann noch zu glauben, dass mit ihr als Mensch etwas nicht stimmt.

Ich sehe das als ein wirkliches Problem in unserer heutigen Gesellschaft, die mehr denn je auf Spezialistenwissen setzt. Das Fatale ist, dass viele Fähigkeiten verloren gehen, wenn man Menschen zwingt, sich trotz vieler Leidenschaften auf ein einzelnes Gebiet zu beschränken. Denn Menschen, die sich für unterschiedliche Dinge interessieren, haben viele wertvolle Eigenschaften: Sie sind getrieben von einer enormen Neugierde, sie sind offen für neue Erfahrungen, sie sind sehr anpassungsfähig und sie können andere begeistern, weil sie selbst begeistert sind. Im Grunde müsste also unsere Gesellschaft ein ureigenes Interesse an Menschen mit vielen Interessen haben. Denn sie sind es, die die komplexen, multidimensionalen Probleme auf der Welt aufdecken und letztlich auch lösen.

Als es noch einfacher war, Innovationen in die Welt zu tragen, wurde diese Denkweise auch von der Gesellschaft gefördert. Die Welt feierte zum Beispiel in der Renaissance die sogenannten Universalgelehrten. Leonardo da Vinci gilt als Inbegriff dieser Gattung: Ein Mensch mit vielen Interessen und kreativen Ambitionen. Goethe war ein brillanter Dichter und Naturforscher, Newton war Philosoph, Naturgelehrter, Theologe und vieles mehr. Sie alle schafften etwas, das andere nicht konnten: Sie haben aus einer Schnittmenge von mehreren Gebieten etwas vollkommen Neues entwickelt. Genau an diesen Schnittstellen entstanden neue Erkenntnisse, die die Welt für immer veränderten.

Die besten Teams in meiner Arbeit bestehen aus einem Mix von verschiedenen „Universalgelehrten“ und Spezialisten. Es ist eine ganz wunderbare Partnerschaft, denn während die Spezialisten den Dingen auf den Grund gehen und die Ideen letztlich umsetzen, bringen die Generalisten ihr breites Wissen in die Projekte ein, beleuchten verschiedene Perspektiven und finden Wege, die vorher noch nicht gesehen wurden.

Wenn wir Arbeit als das sehen, was wir tun, und nicht als das, wer wir sind, sind wir offener für die Erforschung verschiedener Möglichkeiten. Das ist wichtig, denn die Welt zeigt gerade, wie schnell sie sich ändern kann. Alte Industrien verschwinden und neue entstehen schneller als je zuvor. Es ist also durchaus möglich, dass der Job, den Sie später machen werden, noch nicht einmal erfunden wurde.

Wir alle sollten unser Leben und auch unsere Berufe so gestalten, dass sie zu unserem ureigenen Wesen passen. Wenn Sie das tun und Ihr inneres Wesen annehmen, wie immer es auch aussieht, sind Sie auf dem richtigen Weg. Wenn Sie im Herzen ein Spezialist sind, dann sollten Sie sich auch spezialisieren. Nur so werden Sie auch Ihre beste Arbeit leisten. Aber wenn Sie sich für viele Dinge interessieren, dann nehmen Sie Ihre vielen Leidenschaften an. Folgen Sie Ihrer Neugier und dem Ruf hinab in den Kaninchenbau. Ihr Wesen anzunehmen ist der Eintritt zu einem glücklicheren, authentischeren Leben.