Heidi gegen Howard. Oder: Über die Sache mit der Zuschreibung

Ich erwische mich in letzter Zeit immer öfters dabei, wirklich dankbar zu sein für die Zeit, in der ich lebe. Ich wüsste zum Beispiel nicht, wie ich als Kind auf diese Pandemie reagiert hätte. Damals war die Schule mein Zufluchtsort von einem Zuhause, in dem ich mich oft nicht wohl gefühlt habe. Mein Unwohlsein rührte vor allem daher, dass Frauen in meiner Familie alleine aufgrund des Geschlechts abgewertet wurden. Die Welt, in der meine Mutter zum Beispiel aufgewachsen ist, war eine, in der die Möglichkeit für Frauen Karriere zu machen sehr begrenzt war. Es fehlte in manchen westlichen Ländern sogar noch an fundamentalen Rechten für Frauen wie das Recht zu wählen.

Auch wenn die folgenden Generationen das Glück haben, nicht mehr um solche elementare Rechte kämpfen zu müssen, scheint sich trotzdem nicht viel getan zu haben. So regieren beispielsweise aktuell weltweit 193 Staatsoberhäupter, aber nur 19 davon sind Frauen. Im Unternehmensbereich sind deutschlandweit 13,7 Prozent der Frauen in der Führungs- und Vorstandsebene. Nicht einmal jeder 10. Vorstandsposten in börsennotierten Konzernen ist derzeit weiblich besetzt. Die Zahlen verändern sich auch nicht wesentlich – im Gegenteil, während der Pandemie sank sogar die Quote. Dabei haben weibliche Führungskräfte viele Qualitäten und Fähigkeiten und es ist von größter Bedeutung für den Erfolg von Unternehmen, diese Eigenschaften auch anzuerkennen und richtig einzusetzen.

Zweifellos sind viele der Herausforderungen, denen sich weibliche Führungskräfte gegenübersehen, denen ihrer männlichen Kollegen sehr ähnlich: Beide müssen Beruf und Familie vereinbaren, beide müssen Ergebnisse in einem sich ständig ändernden Umfeld erzielen. Frauen haben es dennoch meiner Meinung nach aber deswegen schwerer, weil es ihnen an weiblichen Vorbildern und Mentoren fehlt, die sie dabei unterstützen, Führungsqualitäten und -stile zu entwickeln. Damit mehr Frauen an die Spitze von Unternehmen kommen, gilt es zunächst die grundlegenden geschlechtsspezifischen Vorurteile zu bewältigen, die in der Gesellschaft über Frauen gemacht wurden und noch werden.

Lassen Sie mich Ihnen an dieser Stelle kurz Heidi Roizen vorstellen. Heidi wurde als eine erfolgreiche Unternehmerin aus dem Silicon Valley zum Gegenstand einer äußerst interessanten Studie über geschlechterspezifische Zuschreibung. Der untersuchende Professor präsentierte der einen Hälfte seiner Klasse die reale Fallstudie mit Heidi als Hauptakteurin. Der anderen Hälfte der Klasse gab der Professor dieselbe Fallstudie, aber mit einem wesentlichen Unterschied: Er besetzte die weibliche Rolle in der zweiten Fallstudie mit einem männlichen Pendant namens Howard – mehr als das Geschlecht der Person änderte der Professor nicht, der Rest blieb Wort für Wort gleich. Das Ergebnis des Tauschs lediglich eines einzigen Chromosomen war erstaunlich und erschreckend zugleich: Die Studenten bewerteten Howard und Heidi als gleich kompetent. Ihre Gunst schenkten sie allerdings nur Howard – nicht Heidi. Howard war für die Studenten ein Vorbild, ein großartiger Mann, ein Visionär, der selbstbewusst seinen Weg ging und andere mit seinem Wirken inspirierte und motivierte. Für ihn wollten die meisten sofort arbeiten. Heidi hingegen wurde als egozentrische, selbstsüchtige Frau wahrgenommen, die ohne Skrupel über Leichen ging. Sie war für keinen, der an der Studie teilnahm, eine potentielle Arbeitgeberin. Zur Erinnerung: Es haben sich einzig und alleine die Namen in den Studien unterschieden!

Die Vorurteile und Zuschreibungen, die in unserer Gesellschaft über Frauen in der Führungsebene herrschen, sind soziologisch tief verankert. Es gibt einen Test, bei dem Sie selbst herausfinden können, was Sie wirklich über Frauen und Karriere denken (hier können Sie Ihre unbewussten Denkmuster selbst herausfinden).

Es wäre aber zu einfach zu sagen, dass das das einzige Hindernis für Frauen auf den Weg an die Unternehmensspitze wäre. Ein weiterer Punkt ist, dass Frauen Untersuchungen nach systematisch ihre eigenen Fähigkeiten unterschätzen (dieser Denkfehler wird im übrigen als Selbstbeurteilungs-Bias bezeichnet). Während Männer sich den Erfolg selbst zuschreiben, schieben Frauen ihren Erfolg externen Faktoren zu. Fragen Sie einen Mann, warum er erfolgreich ist, fallen die Antworten (überspitzt) in etwa so aus: „Ich bin einfach gut. Warum fragst du überhaupt?“ Stellen Sie hingegen einer Frauen dieselbe Frage, hören Sie Aussagen wie „Ach, ich hatte einfach Glück." oder "Ich habe einfach sehr hart gearbeitet." oder "Ich hatte tolle Unterstützung dabei.“

Warum spielt dieser überhaupt Unterschied eine Rolle? Ganz einfach deswegen, weil niemand in die Chefetage kommt, wenn er oder sie glaubt, den Erfolg nicht zu verdienen bzw. den Erfolg nicht einmal selbst nachvollziehen kann. Um das zu ändern, reicht es aber nicht zu sagen “Frauen, glaubt an euch und macht einfach mal, dann wird es schon!”. So einfach ist es leider wieder nicht.

Denn das Problem ist sehr komplex und es gilt dabei mehrere Herausforderungen zu lösen. Ein weiteres Hindernis für den Erfolg von Frauen in der Führungseben ist zum Beispiel, dass Frauen häufig mit der Entscheidung konfrontiert werden, sich zwischen beruflichem Erfolg und persönlicher Verwirklichung zu entscheiden. Der biologischen Ursache geschuldet, dass nur Frauen Kinder bekommen können, gibt es scheinbar nur die eine Möglichkeit für Frauen, dass sie sich entweder für oder gegen Kinder und damit für oder gegen Karriere entscheiden können. Auch hier greift wieder der Zuschreibungsfehler.

Nun muss ich an dieser Stelle kurz einhaken und Ihnen ein Geständnis machen: Ich fühle mich selbst unbehaglich, wenn ich an Diskussionen teilnehmen soll, die nur Frauen unterstützen. Denn ich glaube, dass wir auf diese Weise die Spaltung lediglich verstärken und nicht auf einen integrativen Ansatz hinarbeiten, was meiner Meinung nach eigentlich sinnvoll wäre. Die fehlende Anerkennung der weiblichen Stärken ist auch nicht alleine die Schuld von Männern. Frauen müssen zeitgleich von sich aus aktiv werden und für ihre Rechte einstehen.

Die Wirtschaft und die Entwicklung unserer globalen Gemeinschaft profitieren davon, dass nicht nur mehr Frauen, sondern alle Menschen, die nicht dem herrschenden Stereotyp der Führungskraft entsprechen, einbezogen werden. Eine wirkliche Inklusion wird nur dann eintreten, wenn Frauen und Minderheiten nicht mehr als diejenigen angesehen werden, die sich alleine ändern müssen. Die Verantwortung für den Zugang zu verschiedenen Talenten liegt vor allem bei den Führungskräften, die jetzt die Macht haben. Sie müssen ihre Türen öffnen und entscheiden, wer am Tisch sitzt. Und die Frauen und Minderheiten müssen den Mut finden aufzuzeigen und selbstbewusst die Aufgaben annehmen.