Sehr lange verhielt ich mich wie ein Chamäleon. Ich versuchte möglichst nicht aufzufallen und mich anzupassen. Voller Selbstzweifel formte ich meine Persönlichkeit basierend auf der Hoffnung sie so hinzumodellieren, dass ich von allen gemocht werde. Ich tauschte mein authentisches Ich gegen eine vermeintliche Sicherheit, indem ich meine Meinung unterdrückte. Der Preis war hoch: Ich habe mich selbst nicht respektiert, ich habe anderen erlaubt, wichtige Entscheidungen in meinem Leben für mich zu treffen und ich habe mir selbst nicht vertraut. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich das ändern und mein wahres Ich leben wollte. Aber: Was ist das wahre Ich? Und wie wird man eigentlich authentisch?
Untersuchungen zeigen, dass das Verstecken Ihres wahren Ichs anstrengend ist. Es kostet enorm viel Energie und wirkt sich negativ auf Ihre Leistung aus. Eine andere Studie weist nach, dass Sie durch das Zeigen Ihrer Verletzlichkeit viel leichter Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen. Das ist wiederum extrem positiv für Ihre eigene Motivation und Ihr persönliches Wohlbefinden. Von der Wahrheit all dessen bin ich absolut überzeugt. Es gibt allerdings etwas, das wir meiner Meinung nach trotz allem beachten und voranstellen müssen: Nämlich wie dabei der Begriff “Authentizität” oder das “wahre Ich” überhaupt definiert wird.
Eine häufige Definition von Authentizität verleitet zum Beispiel dazu, dass Menschen aufhören zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Sie lautet: Authentisch ist der, der sein wahres Ich lebt. Nur welches Ich ist gemeint? Das vergangene, das gegenwärtige oder das zukünftige Ich? Bedeutet demnach authentisch zu sein, sich nicht zu verändern und sich zu verhalten, wie Sie es immer schon getan haben? Es gibt in jedem Leben Momente, die Sie letztlich dorthin gebracht haben, wo Sie jetzt sind. Das bedeutet aber auch, dass diese Wege und Entscheidungen Sie vermutlich nirgends anders mehr hinführen werden. Alles, was Sie bis jetzt erfolgreich gemacht hat, wird nicht notwendigerweise auch Ihren zukünftigen Erfolg sichern, sondern wird Sie eher in Ihrem weiteren Wachstum blockieren.
Nehmen wir zum Beispiel an, Sie sind ein fantastischer Buchhalter und können hervorragend mit Zahlen umgehen - aber Sie tun sich schwer, die Ergebnisse anderen zu kommunizieren. Diese fehlende Fähigkeit kann Ihnen eine Karriere im Bereich Führung erschweren. Das bedeutet nicht, dass es für Sie schwierig sein muss, neue Fähigkeiten wie zum Beispiel besser zu kommunizieren zu erlernen. Es bedeutet, dass Sie blockiert sind, wenn die alten Fähigkeiten zu Ihrer Identität geworden sind, die Sie mehr oder minder dazu zwingen stehen zu bleiben.
Eine andere gerne genutzte Definition von Authentizität hat mit Ihren Werten zu tun, die tief in Ihnen verwurzelt sind. Ihre Werte entstehen bereits in Ihrer Kindheit und werden zu einem großen Teil durch Ihre Erfahrungen mitbestimmt. Sie verhalten sich nach Ihren Glaubenssätzen und Denkmuster, nach dem, was Sie für richtig, gut und dienlich halten. Wenn Sie nun etwas ändern oder in Ihrem Leben erreichen möchten, das nicht mit Ihren Werten konform ist, kann das schwierig werden – vor allem wenn Sie den Anspruch haben, dabei authentisch zu sein. Es kann sich im ersten Moment so anfühlen, als müssten Sie Ihre Werte und Ihre Integrität dafür opfern - und das fühlt sich in der Regel alles andere als gut an. Das führt zumeist dazu, dass Sie besonders vorsichtig werden und sich unsicher verhalten und somit alles andere als authentisch sind. Um aus diesem Dilemma zu kommen, müssen Sie sich zunächst eine neue Art des Denkens über sich selbst erarbeiten. Sie müssen Ihre bestehenden Werte hinterfragen und sie an Ihre neuen Ziele anpassen. Ein für gewöhnlich sehr langer und harter Weg.
Ich möchte Ihnen noch eine dritte Definition von Authentizität anbieten (diese Perspektive finde ich persönlich am treffendsten). Der Ursprung des Wortes Authentizität findet sich im Griechischen („authentikós“) und bedeutet „echt“, im Spätlateinischen wird „authenticus“ mit „verbürgt, original, zuverlässig“ übersetzt. Eine Person, die demnach authentisch ist, handelt nach den ihr bewussten eigenen Stärken und Schwächen und vermittelt dadurch ein Bild von sich, das bei anderen Personen den Eindruck einer gelungenen Inszenierung erschafft.
Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung, damit es griffiger wird: Als ich begonnen habe, vor großem Publikum zu sprechen, war ich sehr unsicher. Ich hatte Angst vor den Bewertungen und alleine der Gedanke an eine Bühne verursachte in mir Schnappatmung. Viele Menschen haben versucht mir zu helfen. Sie sagten mir, dass ich einfach ich selbst sein solle und der Rest würde sich dann automatisch ergeben. Ich war skeptisch, denn genau das schien ja das eigentliche Problem zu sein: Wenn ich ich selbst blieb, würde ich ja nie auf die Bühne gehen, denn es machte meinem alten Selbst keinen Spaß. Mein altes Ich wäre viel zu ängstlich und viel zu unerfahren dafür gewesen. Es wäre niemals freiwillig auf eine Bühne gegangen.
Ich suchte also einen anderen Ansatz und fand ihn in dem Spruch „Fake it till you make it“. Ich habe das für mich wie folgt übersetzt: In dem Moment, indem ich auf die Bühne trete, beginnt die Bühne zu meinem eigenen Platz zu werden. Ich atme dann die Luft dort tief ein und nehme auf diese Weise den Raum komplett für mich ein, alles andere wird ausgeblendet. Meine Aufgabe besteht letztlich darin, meine Inhalte passend an das jeweilige Publikum überzeugend abzuliefern. Dazu muss ich mir vorab bewusst machen, wie ich mich selbst sehen will, wie ich von anderen wahrgenommen werden will, um dann die Bedingungen zu schaffen, in denen das alles möglich ist. Dazu muss ich aber flexibel in meinem Denken sein und erkennen, dass es noch viel mehr gibt, in dem ich gut sein kann als die Wege, die ich bisher kannte.
Wachstum bedeutet immer, dass Sie Ihre Komfortzone verlassen und auch mal Dinge tun, die sich gerade zu Beginn nicht sehr angenehm anfühlen - alleine deswegen, weil Sie noch nicht wissen, wie es geht oder wohin sie führen. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie experimentierfreudig sind und Dinge auch mal nur ausprobieren. Wenn dann etwas doch nicht klappt, tun Sie eben etwas anderes.
Ich bin davon überzeugt, dass es keine Abkürzungen gibt, wenn Sie wirklich Ihr authentisches Ich leben wollen. Authentisch zu sein ist eine tägliche Entscheidung – von Moment zu Moment. Der Weg dorthin bedeutet innere Arbeit und erfordert Durchhaltevermögen. Sie müssen dafür Ihr emotionales Chaos durchwühlen und durch den Schmerz gehen, den Sie womöglich lange unterdrückt haben.
Hören Sie auf, sich selbst das Leben unnötig schwer zu machen, indem Sie sich dazu verpflichten jemand ganz bestimmter zu sein. Erfinden Sie sich lieber immer wieder neu - so wie es sich für Sie selbst gut anfühlt und wie Sie sein möchten. Betrachten Sie es als eine Art Prototyping mit sich selbst und bleiben Sie vor allem flexibel und offen für neue Wege. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie den Mut finden, Ihr Leben so zu leben, wie Sie es für richtig halten, wie es sich für Sie gut anfühlt und wie Sie es wollen.