Die Angst vor dem Nichtwissen

Es ist eine überraschend weitverbreitete Krankheit - vor allem unter Menschen, die hohe Erwartungen an sich selbst stellen und bei allem, was sie tun, Perfektion anstreben. Für sie bedeutet es, in einem Meeting zu sitzen und keine Antwort auf eine Frage zu haben, mehr als nur zuzugeben, dass sie nicht perfekt sind. Es ist eine Bedrohung ihrer Existenzberechtigung. Selbst wenn sie auf logischer Ebene erkennen, dass das Nichtwissen auf emotionaler Ebene weder lebens- noch karrierebedrohlich ist, fühlt es sich trotzdem so an. Auf eine Frage keine Antwort zu haben, führt schnell zur Schlussfolgerung, dass jemand anderes klüger ist als sie. Und das kann gefühlt zum Karrierekiller werden.

Neulich hatte ich eine Beratung mit einer Führungskraft in einem Konzern. Er wurde neu und einstimmig vom Vorstand als CEO gewählt, weil er viele Qualitäten hat, die das Unternehmen gerade in dieser Zeit so dringend braucht. Allerdings sitzt er seit seiner Ernennung nur noch in Besprechungen, bei denen er mit Inhalten konfrontiert wird, die nicht seinem Fachgebiet entstammen und die er deswegen nicht versteht. Er glaubt, dass mit dem Stellen einer Frage gleichzeitig sein Mangel an Wissen sichtbar werden würde. Dabei liegt genau hier das Problem.

Gerade von Führungskräften wird Orientierung und Klarheit erwartet. Es liegt in ihrer Verantwortung, den Weg für ein Unternehmen vorzugeben. Als ob das nicht herausfordernd genug wäre, hat das stetig zunehmende Tempo des Wandels die Notwendigkeit mit sich gebracht, noch schneller Wege zu finden und die Technologien, die fast täglich neu auftauchen, zu verstehen und zu integrieren.

Zuzugeben etwas nicht zu wissen, fühlt sich für die meisten Menschen nicht gut an. Denn viele Menschen glauben, dass sie bestimmte Fähigkeiten, Wissen und Kompetenzen haben müssen, von deren richtiger Einsatz wiederum andere Menschen abhängig sind. Aber etwas nicht zu wissen, schadet niemandem. Es ist vielmehr die Angst davor, etwas nicht zu wissen, die den eigentlichen Schaden anrichtet.

In unserer Kultur neigen wir dazu, stark zu betonen, wie viel wir wissen. Das führt dazu, dass es nicht salonfähig ist, eine Antwort mal nicht zu kennen. Das zwingt Menschen in die Defensive und verleitet zu teilweise abstrusen Antworten, die einzig dem Zweck dienen, das Gesicht zu wahren. Es wird alles Mögliche an (un)sinnigen Antworten hervorgezaubert, die alle den Schein von Wissen erzeugen sollen. Menschen versuchen sich dann hinter nichtssagenden Wörtern und Fachausdrücken zu verstecken, in der Hoffnung, dass diese Souveränität und Glaubwürdigkeit ausstrahlen. Oder sie regen sich über die Frage auf und suchen nach Verbündeten, die ihr Nichtwissen teilen. All das sind Taktiken, die dabei helfen, die Kontrolle zu behalten und das zerbrechliche Ego zu schützen.

Unsere Neigung, immer eine Antwort zu haben, beginnt schon sehr früh. Dazu gibt eine Studie interessante Einblicke. Zunächst wurde Kindern im Alter zwischen 5 und 8 Jahren eine Geschichte erzählt, bei der verschiedene Fakten eine wichtige Rolle spielten. Im Anschluss wurde dann der Inhalt der Geschichte abgefragt, allerdings wurden absichtlich auch Fragen eingestreut, die nicht beantwortet werden konnten, weil die Informationen erst gar nicht genannt wurden. So wurden die Kinder zum Beispiel gefragt, ob es zu den Sandwiches Limonade zum Trinken gab - in der ganzen Geschichte kam das Wort Limonade kein einziges Mal vor. Den Kindern wurde explizit gesagt, dass sie sagen sollen, wenn sie die Antwort nicht wissen. 25% der Kinder taten das, aber die restlichen 75% haben die Fragen eindeutig mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet.

Gerade Kinder werden in den Schulen nach wie vor so konditioniert, dass sie Autoritätspersonen schnell eine Antwort geben wollen - egal, ob sie die richtige Antwort wissen oder nicht. Sie bemühen sich sich anzupassen, möglichst alles zu wissen und dadurch zu gefallen. Dabei lädt Nichtwissen zu einer Entwicklungsreise ein. Die Annäherung an eine Situation oder ein Problem mit dem Gefühl die Antwort darauf erst entdecken zu müssen, ist vielmehr ein Katalysator für Kreativität und neue Erkenntnisse. Die Dunkelheit des Unbekannten unterstützt Menschen dabei, auf ihr Inneres zurückzugreifen und ihr Gefühl der Unzulänglichkeit zu überwinden.

Wenn Menschen nicht den Mut haben zu sagen, dass sie etwas nicht wissen, führt das zu einer Kultur, in der Fehler nicht erlaubt sind und der es schwierig wird, Risiken einzugehen. Aber ohne den Mut vor Risiken und Fehlern gibt es keine Weiterentwicklung oder Veränderung. Das Bedürfnis, nicht der Experte in jedem Fachgebiet sein zu müssen, befreit Menschen von ihrem Ego, von Schuldzuweisungen und von Urteilen. Es lädt zum Nachfragen, zur Offenheit, zur Beobachtung und zum Zuhören ein. Sie setzen dadurch mehr Fragezeichen und weniger Ausrufezeichen und Punkte.

Nichtwissen ist in Wahrheit sehr hilfreich. Es gibt Ihnen die seltene Gelegenheit, langsamer und achtsamer zu werden, über Ihre Annahmen, Perspektiven, Missverständnisse und Erwartungen hinauszugehen und eine neue Realität zu erkunden, in der Sie nicht alle Antworten wissen müssen.

Manchmal reicht ein einfaches und direktes „Ich weiß nicht“ vollkommen aus, wenn Sie die Antwort nicht kennen. Manchmal hilft es auch zu sagen, dass Sie es zwar jetzt noch nicht weiß, aber gespannt darauf sind, es herauszufinden. Und manches Mal eröffnet die Antwort „Das ist eine interessante Frage. Erzähl mir mehr darüber, wie du darauf kommst?“ Türen zu neuen, wundervollen Welten und Perspektiven, die Sie anders vielleicht gar nicht entdeckt hätten.