Haben Sie vielleicht gerade ein schlechtes Gewissen, weil Sie diesen Artikel lesen statt einem Projekt Ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken oder Mails zu schreiben? Wenn dem tatsächlich so ist, könnte der Grund in Ihrer Geschäftigkeit liegen. Denn glaubt man diversen Umfragen der Marktforschung oder im eigenen Freundeskreis sind die meisten Menschen ständig viel zu beschäftigt. So ergab eine Untersuchung, dass der Prozentsatz der berufstätigen Amerikaner, die angaben, sie hätten „nie genug Zeit“, von 70% im Jahr 2011 auf 80% im Jahr 2018 gestiegen ist – Tendenz weiterhin steigend. Die Lösung scheint eigentlich offensichtlich zu sein: Sie könnten einfach weniger tun. Allerdings ist das nicht ganz so einfach, schließlich ist der Terminkalender überfüllt und manch Termin lässt sich nicht so ohne weiteres streichen.
Die Gründe für unsere Geschäftigkeit sind unterschiedlicher Natur, allerdings sind Unternehmenskulturen, die diese Eigenschaft wertschätzen, zumindest teilweise daran schuld. Geschäftigkeit ist schon seit längerem zu einem Statussymbol mutiert, das von Unternehmen oftmals gefördert und gefordert wird. Untersuchungen zeigen, dass Menschen andere, die angeben beschäftigt zu sein oder das durch Produkte wie ein Headset zeigen, als wichtig wahrnehmen. Oder wie Gordon Gekko es im Film „Wall Street“ prosaischer ausdrückt: „Mittagessen ist für Weicheier.“
Forscher haben herausgefunden, dass das individuelle Wohlbefinden mit einem „Sweet Spot“ von Beschäftigung zur Freizeit zusammenhängt. Zu wenig freie Zeit mindert das Wohlbefinden, allerdings verringert zu viel Freizeit die Lebenszufriedenheit aufgrund von Müßiggang. Anders gesagt: Faulenzen macht eine Zeit lang Spaß, aber irgendwann wird es einfach fad.
Die meisten von uns finden zu viel freie Zeit sogar beängstigender als zu wenig, daher ist Geschäftigkeit eine gute Strategie diese zu vermeiden. Wenn wir unterbeschäftigt sind, werden eine Reihe von Gehirnstrukturen aktiviert, die als „Default Mode Network“ bekannt sind: Wenn unser Hirn in diesem Tagtraummodus ist, werden Verhaltensmuster wie Grübeln und Selbstbeschäftigung aktiviert.
Die Vermeidung der Aktivierung dieses unproduktiven Grübelzustands führt zu Ablenkungen und Beschäftigungen wie dem Scrollen durch soziale Medien, aber auch dem Lösen zielorientierter Aufgaben. Wir füllen lieber die Zeit mit Aktivitäten – egal welcher Art – als dass wir das Risiko eingehen, allein mit unseren Gedanken zu sein. Und unsere Gesellschaft fördert dieses Verhalten: Untätigkeit oder zu viel Freizeit gelten oft als Zeichen von Faulheit. Mit anderen Worten: Der übervolle Kalender, der Ihnen nicht einmal Zeit lässt, auf die Toilette zu gehen, könnte eine selbst auferlegte Erfindung sein, nachdem Sie zu vielen Dingen „Ja“ gesagt haben, um nicht in die Grübel-Falle zu tappen.
Das „wahnsinnig viel zu tun“-Haben fördert das Leben auf Autopilot. Anstatt ein paar Minuten innezuhalten und uns zu fragen, warum wir etwas tun, arbeiten wir einfach gedankenlos weiter (mein Mann nennt diesen Zustand „Roboti-Roboti“). Geschäftigkeit ist auch eine der wenigen gesellschaftlich akzeptierten Ausreden, um Dinge nicht zu tun. Wenn Sie keine Lust haben, zu einer Verabredung zu gehen, eignet sich ein “Sorry, aber ich muss noch unbedingt etwas für die Arbeit erledigen” hervorragend als Ausrede.
Allerdings bedeutet beschäftigt zu sein nicht, unbedingt produktiv zu sein. Wenn ich durch das Checken meiner E-Mails abgelenkt werde, dauert letztlich alles länger, weil ich meinen Flow-Zustand unterbreche. Dann kommt es mir so vor, als hätte ich die ganze Zeit gearbeitet, obwohl ich mich in Wahrheit nicht ausreichend konzentrieren konnte, um wirklich etwas voranzubringen.
Untersuchungen weisen nach, dass Produktivität und Effizienz vielmehr sinken, wenn Unternehmen ihre Mitarbeitenden überbeanspruchen und die Anreize basierend auf deren Arbeitszeit verteilen. Ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2021 zeigte, dass Geschäftigkeit das Risiko von Schlaganfällen, Herzerkrankungen und letztlich des Todes erhöhen. Umgekehrt deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass eine Reduzierung der Arbeitszeit auf ein überschaubares Maß die Produktivität steigert.
Die meisten Menschen haben einfach zu wenig freie Zeit, die sie sinnvoll nutzen. Das kann teilweise unvermeidlich sein durch diverse Verpflichtungen. Manche haben auch viel weniger Kontrolle über ihren Zeitplan als andere. Aber wie die Forschung nahelegt, bürden sich viele Menschen aus Angst vor Müßiggang mehr Geschäftigkeit als nötig auf.
Sie können das bei sich selbst überprüfen, indem Sie sich Ihren Zeitplan ansehen: Wenn Sie eine Lücke im Kalender finden, stopfen Sie diese dann voll oder füllen Sie sie mit Beschäftigungstherapie wie Anrufen und E-Mails, die nicht unmittelbar notwendig sind? Das sind verräterische Anzeichen für eine Abneigung gegen Müßiggang.
Mehr Zeit zum Denken über das Leben zu haben, kann sowohl befreiend als auch beängstigend sein. Wenn Sie allerdings wirklich Ihre Geschäftigkeit überwinden wollen, sollten Sie zuallererst an Ihrer Denkweise arbeiten.
Hier sind ein paar einfache Änderungen, die Sie schnell umsetzen können:
Ändern Sie Ihre Perspektive: Hören Sie zunächst auf zu sagen: „Ich habe keine Zeit“, sondern sagen Sie stattdessen: „Das ist mir nicht wichtig.“ oder „Diese Sache hat für mich keine Priorität“. Erinnern Sie sich daran, dass jeder Tag genug Zeit hat, um die Dinge zu tun, die Ihnen wirklich wichtig sind.
Sagen Sie „Nein!“: Sagen Sie nicht ja zu etwas, nur weil Sie jemand darum gebeten hat. Fragen Sie sich, ob diese neue Aufgabe zu sinnvollen Ergebnissen führen wird (hier finden Sie eine ausführliche Anleitung dazu).
Messen Sie Produktivität nicht daran, wie viele Aufgaben Sie erledigen, sondern an der Anzahl der erledigten Aufgaben, die wirklich wichtig sind. Räumen Sie Ihre To-do-Liste auf und priorisieren Sie sie. Verlagern Sie Ihren Fokus von Aufgaben auf Ergebnisse.
Planen Sie Zeit für sich ein: Setzen Sie sich Termine mit sich selbst, in denen Sie sich bewusst etwas gönnen. Machen Sie einen kurzen Spaziergang oder lesen Sie ein Buch.
Wenn Sie sich die Zeit nehmen, um sich auf das zu konzentrieren, was Ihnen wirklich wichtig ist, wird das einen großen Einfluss darauf haben, wo Sie in einem Jahr stehen werden. All diese Momente, die wir mit irrelevanten und bedeutungslosen Aufgaben verbringen, um nicht allein mit uns selbst zu sein, können wir zum Nachdenken, für spannende Aufgaben oder für Zeit mit unseren Lieben nutzen. Das alles summiert sich sehr schnell. Insofern ist es das anfängliche Unbehagen wert, sich mit unseren eigenen Gedanken auseinanderzusetzen, wenn wir uns zunächst von der Illusion der Produktivität befreien.