Es gibt Zeiten, in denen sich jeder von uns mal unzulänglich oder niedergeschlagen fühlt. Nicht selten lässt sich dann von einer gutmeinenden Person der fatale Satz vernehmen „Du bist perfekt, so wie du bist!“ Noch schlimmer wird es, wenn diesem noch der Nachsatz folgt „Du brauchst dich nicht zu ändern“. Ich weiß nicht, wie es Ihnen mit diesem Versuch der Aufmunterung ergeht, aber wann immer ich diese Sätze zu hören bekomme, werde ich vor allem eines: skeptisch und misstrauisch.
Aussagen wie diese erzeugen eine interne, kognitive Dissonanz. Denn wenn Sie perfekt sind, dann lautet der Folgeschluss, dass etwas mit der Welt um Sie herum nicht passen kann. Die Wahrheit lautet, dass Sie nicht perfekt sind – und es auch sonst niemanden auf der Welt gibt, der dieses Prädikat verdient. Und das ist eine hervorragende Nachricht!Perfektionismus ist vor allem ein sich selbst erhaltendes Gefängnis. Aber nicht nur das: Sie können sich selbst und Ihre Welt nur dann verändern, wenn Sie nicht bereits perfekt sind.
Gerade vielen ehrgeizigen Menschen fällt es schwer zu akzeptieren, dass Mängel und Fehler zum Menschsein dazugehören. Dabei zeigen unzählige Studien, dass die Verletzlichkeit einer Führungskraft die wichtigste Quelle von Glaubwürdigkeit ist. Das Eingestehen der eigenen Unvollkommenheiten schafft Vertrauen. Das Verstecken dieser Unvollkommenheiten führt genau zum Gegenteil. Dennoch fällt es vielen Menschen schwer, die eigenen Unzulänglichkeiten zu sehen.
Der Grund liegt in der sogenannten Selbstauswertung. Aus Schutz vor Schmerzen oder unangenehmen Gefühlen übertreiben wir unsere positiven Eigenschaften, um uns bei einem Vergleich mit anderen als positiver herauszustreichen. Wir brauchen zwar die Einteilung der Welt in unterschiedliche Gruppen, um uns darin orientieren zu können. Aber durch die Aufwertung unseres Selbst geht eine Abwertung von anderen einher. Vielleicht kennen Sie die berühmte Forschung, in der sich 80% der Autofahrer selbst als überdurchschnittlich fahrfähig einschätzten. Vor allem in Bezug auf negative Eigenschaften sind wir Meister darin, das eigene Verhalten positiver zu betrachten und andere Menschen in Bezug auf negative Eigenschaften wie Faulheit, Unfreundlichkeit und Unaufrichtigkeit höher einzuschätzen.
Obwohl Selbstaufwertung kurzfristig dem eigenen Selbstwertgefühl gut tut, ist sie einfach keine langfristige Lösung für die Probleme des Lebens. Früher oder später werden Sie zwangsläufig mit einer schmerzhaften Anpassung an die Realität konfrontiert. Zwar fühlen Sie sich vielleicht glücklicher, wenn Sie sich einreden, dass Sie besser, freundlicher oder klüger als andere sind. Aber die Illusion der Überlegenheit führt nur leider zu keiner besseren Leistung, wie Studien zeigen.
Deswegen ist es auch ein Problem, Kinder ständig zu loben, denn im späteren Erwachsenenleben werden sie so eine kognitive Dissonanz durchleben, die zu massiven Problemen führt. Denn wenn sie perfekt sind, muss die Welt ja bösartig sein.
Wie können Sie das Dilemma des Lebens lösen, dass Sie sich gut fühlen und trotzdem nicht der Verlockung der Selbstaufwertung verfallen?
1. Akzeptieren Sie die Schönheit des Unvollkommenen
Statt sich auf die unerreichbare Vorstellung von Perfektion zu fixieren, erkennen Sie doch die Schönheit und den Wert des Unvollkommenen. Die japanische Philosophie des Wabi-Sabi zelebriert das Unvollkommene und Vergängliche als Quelle der Schönheit. Es sind oft gerade die kleinen Fehler und Unvollkommenheiten, die etwas einzigartig und liebenswert machen. Wenn Sie beispielsweise an handgemachte Kunstwerke oder Möbel denken, sind es die winzigen Unregelmäßigkeiten und persönlichen Spuren, die ihnen Charakter verleihen und sie von maschinell hergestellten Produkten unterscheiden. Denken Sie an Kintsugi, die Kunst, zerbrochene Keramik mit Gold zu reparieren – die Risse und Bruchstellen werden dadurch zu wertvollen Teilen der Geschichte des Objekts.
2. Verändern Sie Ihre Perspektive durch das „90%-Prinzip“
Das 90%-Prinzip besagt, dass Sie sich darauf konzentrieren sollten, 90% eines Projekts so gut wie möglich abzuschließen, anstatt die letzten 10% bis zur Perfektion zu treiben. Forschungen zeigen, dass die letzten 10% der Arbeit unverhältnismäßig viel Zeit und Energie beanspruchen, ohne den Gesamtwert signifikant zu erhöhen. Diese kleine Verschiebung in der Herangehensweise ist oft überraschend befreiend. Zudem gibt es oft nur wenige Unterschiede, die von anderen wahrgenommen werden, während Sie selbst die zusätzlichen Anstrengungen übermäßig betonen.
3. Nutzen Sie die „Good Enough“-Technik aus dem Design Thinking
Im Design Thinking arbeiten wir vielfach mit sogenannten schnellen Prototypen. Die Idee ist, dass wir die Ideen, die wir uns ausgedacht haben, möglichst schnell bei unseren Kunden testen, um dieses Feedback schnellstmöglich einzubauen. Diese Ideen erfüllen meistens nur die Grundfunktionen, aber es reicht, um schnell auf Marktveränderungen zu reagieren und kontinuierlich zu verbessern, anstatt in der starren Erwartung von Perfektion stecken zu bleiben.
4. Arbeiten Sie daran, sich zu verbessern
Nur weil Sie gerade etwas nicht so können, wie Sie es vielleicht wollen, bedeutet das nicht, dass es immer so bleiben muss. Konzentrieren Sie sich darauf kleine, aber beständige Fortschritte zu machen. Durch regelmäßige Reflexion und das Setzen realistischer Ziele können Sie lernen, Ihre Fortschritte zu schätzen und zu feiern, anstatt ständig nach einem unerreichbaren Ideal zu streben.
Das große Problem bei der Selbstaufwertung liegt darin, dass Sie früher oder später mit den eigenen Unvollkommenheiten konfrontiert werden. Wissenschaftler haben gezeigt, dass Menschen mit einer schwachen Fähigkeit zur emotionalen Selbstregulierung dazu neigen, andere für ihre schlechten Entscheidungen verantwortlich zu machen. Diese Form der Täuschung kann zwar schlechte Gefühle über sich selbst kurzfristig vertreiben, aber führt dazu, dass Sie Ihre Beziehungen zu anderen nachhaltig gefährden, weil Sie ihnen die Schuld für Ihre eigene Unvollkommenheit geben.
Anstatt zu versuchen, negative Emotionen zu verdammen, beginnen Sie doch damit, sich selbst und anderen gegenüber einzugestehen, dass Unvollkommenheit etwas vollkommen Normales ist. Die Dinge sind nun mal nicht perfekt. Das bedeutet aber nicht, dass irgendetwas falsch oder gar „kaputt“ ist. Gerade unangenehme Gefühle sind so ziemlich das Normalste im Leben. Wenn Sie sich nie traurig oder unzulänglich gefühlt haben, wäre das ein sehr guter Beweis dafür, dass etwas mit Ihnen nicht stimmt.
Am Ende des Tages ist es wichtig zu erkennen, dass Perfektion nicht nur unerreichbar, sondern auch langweilig ist. Die einzigartigen Unvollkommenheiten, die wir in unsere Arbeit und in unser Leben einbringen, sind es, die uns und unsere Projekte interessant und lebendig machen. Perfektion bedeutet Gleichförmigkeit und Vorhersehbarkeit, während die kleinen Fehler und unerwarteten Wendungen den wahren Charakter und die Individualität offenbaren. Denken Sie daran: Es sind die unperfekten Details, die Geschichten erzählen, Emotionen wecken und echte Verbindungen schaffen. Seien Sie also stolz auf Ihre Unvollkommenheiten – sie sind der Beweis dafür, dass Sie lebendig sind.