Zwischen Wahrnehmung und Beurteilung: Die Macht der persönlichen Perspektive

Selbst wenn sich zwei Menschen von Angesicht zu Angesicht im gleichen Raum unterhalten und die gleiche Sprache sprechen, ist ihre Kommunikation unglaublich komplex. Ein grundlegendes Verständnis der Vorgänge in der Kommunikation kann uns helfen, Fehlkommunikation zu minimieren. Ein Ansatz, der versucht die Kommunikation zu entschlüsseln, ist das sogenannte „Sender-Empfänger-Modell“. Ähnlich einem Ballspiel gelangt dabei die Nachricht von Person A direkt zur Person B. Dieser Ansatz bildet allerdings nicht annähernd die gesamte Komplexität von Kommunikation ab. Denn Menschen senden und empfangen jede Nachricht immer durch ihren subjektiven Filter. Unsere Wahrnehmungsfilter verändern stets Bedeutung und Interpretation. Bei einem Gespräch äußert die eine Person ihre Deutung der Nachricht, der Gesprächspartner erhält jedoch seine eigene Interpretation.

Nehmen wir als Beispiel eine Situation, die ich letztens beim Coaching besprach: Mein Coachee nimmt sich selbst als freundlichen und großzügigen Kollegen wahr, der gerne anderen seine Hilfe anbietet. Nun war er verblüfft als er einer Kollegin helfen wollte und sie sein Angebot brüsk ablehnte. Er ging davon aus, dass sie überarbeitet und gestresst sei. Schließlich ist sie jeden Tag sehr früh zur Arbeit erschienen und erst spät nach allen anderen nach Hause gegangen. Wie sich später herausstellte empfand die Kollegin sein Angebot als mangelndes Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Der Grund, warum sie sich so verhalten hat, war, dass sie gerne die Zeit für ihre eigene Arbeit nutzt, in der nicht so viel im Büro los ist und ansonsten lieber die Zeit mit ihren Kollegen verbrachte. So wie er sie missverstand, missverstand sie ihn.

Solche Missverständnisse führen nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch zu Hause zu Konflikten und Unmut. Wie viele Streitigkeiten zwischen Paaren beginnen damit, dass eine Person falsch interpretiert, was eine andere sagt oder tut? Beim Abendessen starrt er auf seinen Teller, während sie aus ihrem Alltag erzählt. Während sie davon ausgeht, dass es ihm egal ist, was sie sagt, genießt er in Wirklichkeit das wunderbare Essen, das sie zubereitet hat. Oder sie geht lieber früh zu Bett und verzichtet auf die sonst übliche Zeit zu zweit vor dem Fernseher. Während er davon ausgeht, dass sie kein Interesse daran hat, Zeit mit ihm zu verbringen, ist sie einfach nur erschöpft von dem langen Tag. Meistens merken wir gar nicht, dass wir gar nicht so erscheinen, wie wir eigentlich denken, dass wir tun.

Es herrscht eine große Kluft zwischen der Art und Weise, wie andere Menschen uns sehen, und wie wir uns selbst sehen. In der Psychologie wird gemutmaßt, dass wir alle unter einer sogenannten Transparenzillusion leiden: Hinter diesem Begriff verbirgt sich der Glaube, dass das, was wir fühlen, wünschen und beabsichtigen, für andere absolut klar, logisch und sichtbar sein muss - obwohl wir nur sehr wenig getan haben, um zu kommunizieren, was tatsächlich in unserem Kopf vorgeht.

Da wir nun davon ausgehen, dass wir ohnehin sehr transparent agieren, bemühen wir uns im Normalfall auch nicht darum, die eigenen Absichten oder emotionalen Zustände klar und offen darzulegen. Dadurch erhält der andere aber nur wenig bis gar keine Information, die er aber für eine genaue Beurteilung benötigt. Dazu kommt, dass wir auch in unserer Mimik und Gestik nur minimale Unterschiede zeigen. So ist der mimische Ausdruck von Verwirrtheit zum Beispiel oft derselbe, den wir zeigen, wenn wir nervös oder gestresst sind.

Der Wahrnehmende hingegen hat noch ein anderes Problem: Menschen sind das, was laut vielfachen Untersuchungen Psychologen als einen kognitiven Geizhals bezeichnen. Oder anders gesagt: Wir sind faule Gehirnnutzer. Laut dem Nobelpreisträger Daniel Kahneman gibt es zwei kognitive Prozesse, wie der Geist Informationen verarbeitet. Er unterscheidet System 1 von System 2.

System 1 verarbeitet Informationen schnell, intuitiv und automatisch. Dieses System ist am Werk, wenn wir ganz einfache Arbeiten erledigen, wie zum Beispiel einfache Rechnungen lösen (2+2=4) oder einen vertrauten Weg entlanggehen. Wenn es um die soziale Wahrnehmung geht, verwendet System 1 Abkürzungen und Stereotypen, um Rückschlüsse auf eine andere Person zu ziehen. Es gibt viele Abkürzungen, auf die sich der Geist verlässt, wenn er die Mimik, die Körpersprache und die Absichten anderer liest. Eine der wirkungsvollsten davon ist der Primäreffekt. Dabei werden Informationen, die wir in der ersten Begegnung mit einer anderen Person erhalten, automatisch gespeichert und bei jeder Begegnung als Referenz herangezogen.

Im Vergleich zum voreingenommenen und fehlerhaften Denkstil von System 1 verarbeitet System 2 Informationen bewusst, rational und überlegt. System 2 kommt zum Beispiel zum Einsatz, wenn jemand kompliziertere Mathematikaufgaben löst, oder sich in einer neuen Gegend orientieren muss. Anders als bei System 1, wo das Denken automatisch und mühelos erfolgt, ist der Denkvorgang bei System 2 energieaufwendig.

Unsere Wahrnehmung endet normalerweise mit System 1, da die meisten Menschen kognitive Geizhalse sind und sich damit begnügen, Geschwindigkeit gegen Genauigkeit einzutauschen. Es gibt einige Annahmen, die universell sind und unbewusst ablaufen. Sie können sich darauf verlassen, dass andere Menschen diese Annahmen auch über Sie treffen (und keine Ahnung haben, dass sie es tun):

  • Andere erwarten, dass Sie aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen so sind, wie sie es erwarten.

  • Sie werden genauso wie die anderen Mitglieder der Gruppe wahrgenommen, zu denen Sie zu gehören scheinen.

  • Wenn Sie eine positive Eigenschaft haben, wie zum Beispiel Intelligenz, Humor, Freundlichkeit oder Schönheit, geht der andere automatisch davon aus, dass Sie auch andere positive Eigenschaften besitzen.

Man fängt also mit einer anderen Person nie wirklich bei null an - selbst wenn man sie zum ersten Mal trifft. Das Gehirn des Wahrnehmenden füllt schnell Details über Sie aus – viele davon, bevor Sie überhaupt ein Wort gesprochen haben.

Menschen, die klare Signale an andere senden, sind nicht nur leichter zu beobachten, sondern, wie Forscher herausgefunden haben, letztendlich glücklicher und zufriedener mit ihren Beziehungen, ihrer Karriere und ihrem Leben. Es ist leicht zu verstehen, warum: Sich verstanden zu fühlen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wenn Menschen dieses Bedürfnis befriedigen, fühlen sie sich wohler mit sich selbst und mit den Menschen um sie herum, die sie eher so sehen, wie sie sich selbst sehen.

Es gibt ein paar Dinge, die Sie tun können, um dorthin zu gelangen:

  • Seien Sie sich Ihrer eigenen, subjektiven Wahrnehmung bewusst. Erfahrungen wie z.B. Kultur, Umfeld und Familie beeinflussen, wie Sie die Welt sehen. Wenn Sie das im Hinterkopf haben, ist es einfacher in einen echten Dialog mit anderen zu treten, um gegenseitiges Verstehen zu ermöglichen.

  • Gehen Sie nicht davon aus, dass die andere Person weiß, wovon Sie sprechen. Verwenden Sie keine Fachsprache oder Fachbegriffe, die die andere Person möglicherweise nicht versteht. Unter dem Druck, uns selbst auszudrücken, vergessen wir leicht, dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist.

  • Fragen Sie nach, um sicherzustellen, dass die andere Person versteht, was Sie meinen. Und seien Sie geduldig. Manchmal dauert es ein wenig, bis die andere Person wirklich versteht, was Sie sagen.

Es ist leicht, die Absicht anderer zu missverstehen. Tatsächlich passiert es ständig. Der Grund dafür liegt darin, dass wir alle die Welt durch unsere eigene, einzigartige Linse interpretieren – aber diese Linse kann manchmal etwas verschwommen sein. Wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, jemand anderen wirklich zu verstehen, oder wenn wir seine Perspektive ignorieren, sind Missverständnisse vorprogrammiert. Wenn Sie häufiger das Gefühl haben, missverstanden zu werden, ist es möglicherweise an der Zeit, Ihren Kommunikationsstil genauer unter die Lupe zu nehmen und einige Dinge zu tun, um die Verwirrung zu beseitigen.