Die Schönheit des Lebens ist untrennbar mit ihrer Zerbrechlichkeit verbunden. Wir sind jung, bis wir es plötzlich nicht mehr sind. Wir sind schön, bis wir merken, dass wir für andere plötzlich unscheinbar geworden sind. Wir sind gesund, bis uns eine Diagnose plötzlich in die Knie zwingt. Die einzige Gewissheit, die es im Leben wirklich gibt, ist, dass nichts gewiss und alles im Wandel ist. Und doch scheint es mir, dass wir in diesen besonderen Zeiten – in Zeiten zunehmender Komplexität und eines beispiellosen Wandels in Technik, Wirtschaft und Kultur – immer starrer, immer emotionsloser werden.
Emotionen benennen und ansprechen zu können, ist eine Fähigkeit, die wir, unsere Familien und unsere Gesellschaft mehr denn je brauchen. Auch am Arbeitsplatz spielen Gefühle eine wesentliche Rolle: Nur wenn Menschen ihre wahren Empfindlichkeiten, Sorgen und Gedanken ansprechen und auch zulassen dürfen, wachsen sie über sich selbst hinaus und leisten das, wozu sie fähig sind.
Wie wir mit unserer Innenwelt umgehen, beeinflusst jeden Aspekt unseres Lebens. Wie wir lieben, wie wir denken, wie wir handeln. Nun gibt es in unsere Gesellschaft eine sehr starre Einteilung der Gefühle: Es gibt gute und es gibt schlechte Gefühle, positive und negative, helle und dunkle. Dabei hat die Welt so viel mehr Nuancen zu bieten! Wir brauchen ein neues Verständnis über Gefühle, um die in dieser Welt notwendige Widerstandsfähigkeit aufzubauen und wirklichen Wachstum zu erfahren. Wir sind mehr denn je gefordert, eine Art emotionale Flexibilität zu entwickeln und zu leben.
Zurzeit gibt meiner Meinung nach zwei Extreme, wie Menschen generell mit Gefühlen umgehen: Die einen denken fast schon zwanghaft über Gefühle nach und verlieren sich darin, um möglichst “normal” und gesellschaftlich angepasst zu sein und nicht aufzufallen. Die anderen schließen ihre Gefühle von sich und anderen weg und lassen nur die zu, die sie – nüchtern betrachtet – als richtig und angebracht sehen.
Das Wegsperren und Verleugnen unserer Emotionen funktioniert aber nicht. Nicht für einzelne Menschen, nicht für Gruppen, nicht für unsere Gesellschaft. Gefühle werden stärker, je mehr wir sie ignorieren. Es ist wie mit der Schokolade in der Naschlade: Je mehr Sie versuchen sie zu vergessen, desto desto größer wird das Verlangen danach.
Natürlich durchlebt niemand gerne schlechte Gefühle. Im Social-Media-Zeitalter verurteilen wir uns mehr denn je dafür, schlechte Gefühle zu haben, wie Angst, Wut, Neid, Scham oder Trauer. Sobald wir solche Gefühle wahrnehmen, tun wir nach einem Schreckensmoment alles, um sie weit von uns fortzuschieben. Fühlen wir uns andererseits gut und euphorisch und fällt es uns dann auf, dass andere in unserer Umgebung sich nicht so fühlen, empfinden wir sofort Schuld. Dabei sind alle Gefühle wichtig, richtig und wertvoll. Es gibt kein einziges Gefühl, das sinnlos oder nur gut oder schlecht wäre.
Die Akzeptanz all unserer Gefühle – auch der unerfreulichen und unangenehmen Gefühle – ist die Basis für unseren Wachstum, für unsere Widerstandskraft und für unsere Lebensfreude. Gefühle sind Wegweiser zu den Dingen, die uns wirklich am Herzen liegen. Denn normalerweise zeigen wir keine starken Emotionen bei Dingen, die uns nichts bedeuten.
Ständig zuversichtlich und optimistisch zu sein hat sich zu einer neuen Form von gesellschaftlich richtigem Verhalten entwickelt. Unheilbar kranken Menschen wird oft geraten trotz allem optimistisch zu sein. Frauen wird nahegelegt, seltener ihre Gefühle zu zeigen und nicht zu "überdramatisieren". Kindern wird früh beigebracht, nicht zu weinen oder gar laut zu lachen. Diese Liste ist nicht nur grausam und nicht zielführend – sie lässt sich auch noch lange fortführen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bin nicht gegen Optimismus oder Zuversicht. Ich selbst blicke absolut positiv in die Zukunft, ich lache sehr gerne, viel und aus vollem Herzen. Aber ich bin davon überzeugt, dass wenn wir ganz natürliche Emotionen wie Ärger, Wut oder Verzweiflung einfach ignorieren und versuchen stattdessen falsche Zuversicht auszustrahlen, dann nehmen wir uns auch selbst die Möglichkeit der Entwicklung. Wir nehmen uns die Möglichkeit unseren individuellen Weg in dieser Welt zu finden und die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, und nicht, wie wir sie uns wünschen, das sie sein soll.
Es gibt aber eine Möglichkeit, keine unangenehmen Emotionen zu fühlen: Dazu müssen Sie sterben. Denn wenn Sie tot sind, werden Sie vermutlich keine Gefühle mehr haben. Dann werden Sie auch keinen Stress, keine Enttäuschung, kein Scheitern, keine schwer zu ertragenden Gefühle mehr erleben. Gefühle sind nunmal Teil des Vertrags, den Sie mit den Eintritt in diese Welt abgeschlossen haben: Es gibt keine Familie, keine Karriere, kein Leben, keine Liebe, keine Freude ohne Stress und Unannehmlichkeiten.
Versuchen Sie Ihre Gefühle als das anzunehmen, was sie sind. Überlegen Sie sich bewusst, was Sie wirklich spüren. Was Sie tatsächlich in einem Moment empfinden. Das bedeutet nicht, dass Sie sich mit den Gefühlen identifizieren sollen. Es geht lediglich um das Wahrnehmen und Spüren von dem, was gerade da ist.
Den eigenen Gefühlen zu begegnen benötigt Neugier, Mitgefühl und besonders Mut. Aber dieser Preis ist es wert, denn dann erfahren wir wahre Selbsterkenntnis. Und dann sind wir auch in der Lage andere Menschen in ihrer Einzigartigkeit zu sehen und sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Wäre das nicht ein zukunftsfähiger Weg in einer komplexen Welt, der sich zu gehen lohnt?
Wieso Widerstandsfähigkeit so wichtig ist und wie Sie diese aufbauen können, erfahren Sie in unserem neuesten Video.