Feiertagsrituale, farbenfrohe Dekorationen und Lichter, der Duft von Weihnachtsplätzchen und die Zeit, die wir mit Familie und Freunden verbringen: All das weckt oftmals freudige Erinnerungen und warme Nostalgie-Gefühle. Nostalgie ist eine sozial-emotionale Erfahrung, die uns mit unseren Lieben verbindet und uns gleichzeitig an unsere Werte und Vorstellungen erinnert.
Die gespeicherten positiven Erinnerungen an vergangene Feste können eine stabilisierende Kraft sein, die uns Studien zufolge in schwierigen Zeiten des Übergangs oder der Veränderung trösten. Wenn wir uns ängstlich oder deprimiert fühlen, kann Nostalgie als Bewältigungsmechanismus fungieren.
Nun liegt zwischen der Vergangenheit und Zukunft die Gegenwart, die aber in der Realität allzu oft Enttäuschungen mit sich bringt. Wenn Sie sich beispielsweise schon einmal nach einem Weihnachtsabend oder einer Silvesterparty enttäuscht gefühlt haben, sind Sie nicht mit diesen Gefühlen allein. Unser Gehirn ist bestens dafür gerüstet, unsere Freude an den gegenwärtigen Feiertagen zu sabotieren. Nicht, weil die Ereignisse unbedingt schlecht wären, sondern weil die Realität im Vergleich zu unseren sorgfältig zusammengestellten Erinnerungen und Vorstellungen einfach verblasst.
Wenn Sie sich beschweren, wie viel besser die Vergangenheit war, lügt Ihr Gehirn Sie höchst wahrscheinlich an. Wir neigen dazu, vergangene Erlebnisse zu übertreiben und die Freuden der Gegenwart zu unterschätzen. Die gute Nachricht ist, dass Sie dieser kognitiven Verzerrungen einen Strich durch die Rechnung machen und die wahre Schönheit der Gegenwart entdecken können.
Bei Erinnerung an vergangene Zeiten sind zweierlei Formen unseres Langzeitgedächtnisses am Werk: Einerseits nutzen wir das sogenannte semantische Gedächtnis. Darin ist unser Wissen über die Welt und Fakten aus der Geschichte gespeichert. Dank des semantischen Gedächtnisses wissen wir, dass „Weihnachten einmal im Jahr stattfindet und eine besinnliche Zeit mit der Familie ist“. Andererseits bedienen wir uns unseres episodischen Gedächtnisses. Darin sind die bewussten Erinnerungen an persönliche Erlebnisse gespeichert, wie zum Beispiel, dass Weihnachten 1998 der Hund die teure Krippenfigur gefressen hat, der Vater äußerst erbost darüber war (auch Jahre später, als der Hund längst verstorben war) und seiner Tochter diesbezüglich bis zu seinem Tod Vorwürfe gemacht hat. Unser episodisches Gedächtnis ist eine Art virtuelle Videobibliothek.
Warum es das episodische Gedächtnis gibt, ist unter den Wissenschaftlern umstritten. Manche glauben, dass glückliche episodische Erinnerungen als eine Art psychologische Ressource dienen, die wir nutzen, um mit negativen Emotionen umzugehen. Alle sind sich aber einig, dass episodische Erinnerungen nicht exakt sein müssen - auch falsche Erinnerungen, also Erlebnisse, die nie passiert sind, können sehr leicht provoziert werden. Das ist auch der Grund, warum Augenzeugenaussagen so unzuverlässig sind.
Das Tolle ist, dass wir Erlebnisse - vergangene sowie zukünftige - verändern können. Wir können unsere Erinnerungen so bearbeiten, sodass die Vergangenheit schöner und besser scheint, als sie tatsächlich war. Dieses Phänomen wird Fading Affect Bias genannt. Dabei ändern wir unsere Emotionen über die Vergangenheit, um die schlechten Teile einer Erfahrung möglichst schnell zu vergessen. Das ist eine sehr hilfreiche Taktik, um beispielsweise Traumatas zu bewältigen.
Während wir die Vergangenheit also umgestalten können, dass die Streitereien beim Familienessen vollständig aus dem Gedächtnis verschwinden, und uns eine glückliche Zukunft vorstellen, in der alle glücklich beisammensitzen, können wir den gegenwärtigen Moment nicht auf diese Weise bearbeiten. Noch dazu zeigen Untersuchungen, dass wir eine Tendenz haben, uns auf die negativen Aspekte aktueller Ereignisse zu konzentrieren. Das kommt daher, dass wir unsere Aufmerksamkeit schulen, um uns Bedrohungen aufzuzeigen. Das führt dazu, dass das gackernde Lachen des Onkels und seine ewig alten, schlechten Witze in der Gegenwart zur gefühlten Qual werden. All das führt nun letzten Endes dazu, dass die Feiertage weniger großartig sind, als Sie sich womöglich erinnern - und weniger Freude bringen, als Sie erwartet haben.
Die Lösung liegt darin, sich weniger auf die Vergangenheit und die Zukunft zu verlassen und achtsamer in der Gegenwart zu sein. Achtsamkeit wird oft mit spirituellen Ritualen und Meditation gleichgesetzt. Dabei handelt es sich vielmehr um verschiedene Gewohnheiten, die Sie dabei unterstützen, im Moment zu bleiben und sich nicht auf die Vergangenheit oder die Zukunft zu konzentrieren.
Der größte Feind der Achtsamkeit ist Ablenkung. Wir sind so sehr an eine Flut von Informationen und mentalen Reisen gewöhnt, dass es schwer sein kann, im Moment präsent zu sein. Ich selbst nutze ein Ritual, das ich Ihnen an dieser Stelle als Hilfsmittel für die Feiertage mitgeben möchte: Bitten Sie jeden der anwesenden Personen drei Dinge des aktuellen Tages zu nennen, für die er oder sie dankbar ist. Dabei geht es nicht darum, herausragende Erlebnisse aufzuzählen und sich gegenseitig zu übertrumpfen, sondern es geht um die Kleinigkeiten, die im Alltag so schnell untergehen. Es geht darum, Bewusstsein für den Moment zu schaffen.
Wenn Sie viele und auch hohe Erwartungen an die Feiertage haben - basierend auf der Art und Weise, wie Ihr episodisches Gedächtnis Sie glauben macht - lassen Sie Ihre vorgefasste Meinung los. Erleben Sie dieses Weihnachten so, wie es ist. Sie können Ihre Vergangenheit oder Zukunft konstruieren, wie Sie möchten, aber Sie können nur in der Gegenwart wirklich leben. Genießen Sie die Zeit so gut wie möglich und tun Sie so, als wäre dieses Weihnachten das erste – denn in gewisser Weise ist es das auch.
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In eigener Sache: Henry Thoreau sagte einmal, dass wir immer mehr Möglichkeiten haben zu kommunizieren - und zeitgleich immer weniger zu sagen haben. Vielleicht ist ein Grund dafür, dass wir es so eilig haben, Fristen und Vereinbarungen einzuhalten, dass wir kaum merken, wie unser Leben vorbeizieht.
Die einzige Möglichkeit, unserer Lebenszeit wirklich gerecht zu werden, besteht meiner Meinung nach darin, eine emotionale Klarheit hervorzurufen, die in der Stille und im Abstand zum Alltag zu finden ist. Deswegen werde ich die Weihnachtszeit wieder dazu nutzen, eine Soziale-Medien-Auszeit einzulegen, spazieren zu gehen, zu lesen und mich in der Stille zu verlieren, damit ich mich im Neuen Jahr mit neuen Impulsen melden kann.
Ich wünsche Ihnen wunderschöne, achtsame Feiertage und freue mich auf das Wiederlesen im Neuen Jahr.