Ich gebe es zu: Gerade in meinem Bereich als Design-Thinking-Beraterin mache ich oft den Aufruf, die Komfortzone zu verlassen und mal abseits des Gewohnten und Sicheren zu denken. Allerdings gilt diese Aufforderung vor allem dann, wenn es gilt, Ideen zu entwickeln, die jenseits des Status Quo liegen. Denn ständig außerhalb der eigenen Komfortzone zu agieren, erfordert einen enormen Energieaufwand.
Oft wird aber genau das propagiert: Ohne dem Verlassen der Komfortzone würden wir nirgends hinkommen oder gar erfolgreich sein - ganz getreu dem Motto “Das Leben beginnt dort, wo deine Komfortzone endet.”. Letztens war ich in einem Unternehmen, bei dem bereits in der Eingangshalle der Spruch prangte "Mache jeden Tag etwas, das dir Angst macht".
Mit dem Begriff Komfortzone verbinden wir einen Zustand, in dem sich eine Person wohlfühlt und bei der sie die volle Kontrolle über ihre Umwelt hat. In vielen Studien (u.a. in dieser) wurde nachgewiesen, dass Stress und Angst die Leistung tatsächlich steigert. Eine willkommene Entdeckung gerade in Zeiten des steigenden Wettbewerbs.
Kinder allerdings lernen und wachsen nicht durch Stress, sondern dann, wenn sie sich wohlfühlen. Der Entwicklungspsychologe Lev Vygotsky hat den Begriff der „Zone der proximalen Entwicklung“ geprägt. Damit ist gemeint, dass Lernen vor allem in der Nähe unserer Komfortzone stattfindet: Ist die Arbeit zu einfach, wird das Kind sich schnell langweilen. Ist die Arbeit aber zu schwer, ist es bald frustriert und es wird kein Wachstum stattfinden. Erst in dem Bereich zwischen der Komfortzone und der Frustrationszone findet Lernen und Wachsen statt. Das bedeutet, dass wir Herausforderungen bewusst annehmen sollten, nachdem wir uns unserer Grenzen bewusst gemacht haben.
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich selbst geglaubt, dass Erfolg nur außerhalb der eigenen Komfortzone möglich ist. Voller Überzeugung habe ich diesen Glaubenssatz gelebt: "Wenn es nicht klappt, muss ich mich eben einfach mehr anstrengen". Einen Auftrag abzulehnen, kam für mich nicht in Frage, schließlich wollte ich niemanden vor dem Kopf stoßen. Irgendwo und irgendwie lässt sich schon noch eine Lücke dafür finden. Daneben musste es noch möglich sein, ein Unternehmen aufzubauen, das vor allem durch Qualität und Expertise von sich reden macht. Nach Außenhin hat auch alles wunderbar geklappt. Die Zukunft sah rosig aus.
Im Laufe der Zeit habe ich aber festgestellt, dass das ständige Verlassen der Komfortzone vor allem zu einem führt: Stress, der wiederum langfristig physische und psychische Probleme nach sich zog. Ich fühlte mich im Inneren vollkommen leer, müde und hilflos. Da das Außen mir aber weiterhin suggerierte, dass der ewige Ausstoß vom Stresshormon Cortisol für Erfolg notwendig wäre, interpretierte ich meine Hilflosigkeit als Unzulänglichkeit. Um diese loszuwerden, musste ich also einfach noch mehr leisten.
Nur wuchs im Laufe der Monate das Gefühl der Hilflosigkeit und die Angst und der Stress wurden immer größer. Die Folge waren gesundheitliche Probleme. Am Wochenende war ich so müde, dass ich fast durchgeschlafen habe. Indem ich mich dazu drängte, mich unwohl zu fühlen, hatte ich mich bis zur Erschöpfung geopfert. Das Mantra hat nicht mehr funktioniert. Ich habe lange gebraucht, um zu lernen, dass die eigene Komfortzone etwas ist, indem man getrost verweilen darf, um seine Energien neu aufzuladen. Wie bei den meisten Dingen des Lebens ist das Gleichgewicht entscheidend für Erfolg und Glück. Deswegen ist es auch gut und wichtig, ab und an diese Komfortzone zu erweitern, indem wir sie verlassen und Neues entdecken. Letztlich geht es nicht darum, in allem gut zu sein, sondern darum, keine Angst zu haben, Neues zu versuchen.
Wir alle haben Grenzen, die wir kennen und vor allem respektieren sollten. Es gibt Dinge, die uns leicht fallen und andere, die außerhalb des Gewohnten liegen und die dadurch einen anderen Energieaufwand bedeuten.
In einer Welt mit steigenden Anforderungen an uns, sind unsere Komfortzonen bekannte Gebiete, in denen wir Zuflucht finden, wenn der Stress zu groß wird. Sie fungieren als eine Art "Leo", eine Sicherheitszone, bei der wir uns kurz ausruhen können, um mit neuer Energie voll durchzustarten. Denn nur wenn wir weniger Stress und Angst erleben, können konzentriert arbeiten und unser Bestes geben.