Der Begriff Narzissmus ist zu einem landläufigen Begriff geworden. Es steht als Synonym einer „Ich zuerst“-Mentalität, die sich scheinbar noch mehr dank der sozialen Medien entwickelt hat. Wir verwenden das Wort, um Prominente, Politiker und sogar einige unserer Kollegen und Freunde zu beschreiben. Gewöhnlich wird das Wort narzisstisch eingesetzt, um damit anzudeuten, dass eine Person egoistisch, manipulativ oder vom Ego getrieben ist. Es gibt aber nicht nur einen wichtigen Unterschied zwischen alltäglichem Egoismus und echtem Narzissmus, sondern auch zwischen einem normalen Persönlichkeitsmerkmal und einer seltenen, krankhaften Persönlichkeitsstörung.
Das Konzept des pathologischen Narzissmus geht auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als der englische Arzt und Schriftsteller Havelock Ellis das durch Anziehung zum eigenen Selbst belebte Sexualverhalten als narzissartig beschrieb. Freud griff diesen Begriff auf und bezeichnete die Selbstgenügsamkeit selbstbewusster Frauen und das Verhalten homosexueller Männer als narzisstisch. Später beschäftigten sich zwei österreichische Psychoanalytiker, Otto Kernberg und Heinz Kohut, mit Patienten, die von Leere und Bedeutungslosigkeit geplagt waren und die auf die beiden Analytiker gleichzeitig unsicher, aggressiv und selbstbezogen wirkten. Der von Kohut entwickelte Analyseansatz namens „Selbstpsychologie“ riet dazu, sich in den Narzissten einzufühlen. Kernberg argumentierte, dass der einzige Weg zur Heilung der sei, den Narzissten direkt zu konfrontieren, seine Sichtweise anzuzweifeln und zu pathologisieren.
Es ist Kernbergs Modell, das in unserem Alltag Einzug gefunden hat – eines, das Narzissmus nicht als Abwehrmechanismus oder als vertretbare Reaktion auf Umstände versteht, sondern als „Zustand eines gescheiterten Selbst“. Die Forschung rund um das Thema Narzissmus hat sich in den letzten Jahren weit entwickelt. Früher galt als Narzisst eine dreiste, auffällige Person, die gerne jedes Gespräch übernimmt. Neuere Studien zeigen allerdings, dass es auch unsicherer Narzissten gibt. Diese sind zwar noch immer selbstbezogen, aber sie werden in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen.
Die moderne Forschung definiert nun Narzissmus auf drei verschiedene Arten: 1. die narzisstische Persönlichkeitsstörung 2. das grandiose Persönlichkeitsmerkmal und 3. das verletzliche Persönlichkeitsmerkmal.
Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Wenn Menschen im formalen Sinne über Narzissmus sprechen, denken sie in der Regel an eine diagnostizierbare Persönlichkeitsstörung – narzisstische Persönlichkeitsstörung. Diese zeigt sich in schwerwiegenden, negativen Verhaltensweisen, die dessen eigenes Leben und das anderer beeinflusst. Laut dem ICD-11 (der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme), das Psychologen und Psychiater verwenden, wurde der Begriff Narzissmus als Krankheitsbegriff allerdings 2022 gestrichen, da jeder Mensch über narzisstische Züge verfügt und die Grenzen zum pathologischen Narzissmus einfach viel zu fließend und nicht eindeutig sind.
Der Narzisst im pathologischen Sinn muss fünf von neun Kriterien erreichen, um als Narzisst bezeichnet zu werden: Neben einem allgegenwärtigen Muster der Selbstherrlichkeit, sind Narzissten mit Fantasien von unbegrenztem Erfolg oder unbegrenzter Macht, einem Bedürfnis nach Bewunderung und einem Anspruchsdenken beschäftigt. Sie haben einem Mangel an Empathie, was oft zu ausbeuterischem Verhalten führt.
Um mit der Störung Narzissmus diagnostiziert zu werden, muss die Mehrheit der Kriterien erfüllt sein. In der Realität zeigen nur sehr wenige Menschen eine solche extreme Persönlichkeit, die als wirklich beeinträchtigend gesehen werden kann. Im Grunde sind wir alle mehr oder minder narzisstisch. Die meisten von uns fallen in eine Kurve zwischen den beiden Extremen.
2. Grandioser Narzissmus
Dieser Typ von Narzisst ist der, der mit unserer alltäglichen Vorstellung des Narzissmus am meisten in Verbindung gebracht wird. Es sind charismatische Menschen, die interessante Charaktere haben. Sie haben oft zahlreiche Follower auf sozialen Medien und lieben es im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Diesen Persönlichkeitstypus werden Sie auch öfters bemerken, weil er oder sie genau das will - sie wollen wahrgenommen werden.
Grandiose Narzissten neigen dazu, laut zu sein. Sie sind mutig, durchsetzungsfähig und haben ein hohes Selbstwertgefühl. Sie dominieren in den Beziehungen zu anderen, überschätzen gerne und oft ihre Fähigkeiten und legen großen Wert auf ihr Aussehen. Diese Eigenschaften sind eigentlich auch das, was in unserer Gesellschaft gemeinhin gefeiert wird: Wir loben ein hohes Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und aufgeschlossene Persönlichkeiten. Wir führen Unternehmen und Organisationen so, dass Führungskräfte ermutigt werden, sich zu engagieren, und belohnen attraktive, redegewandte Redner. Es treten allerdings dann Probleme auf, wenn ihr Verhalten andere Personen negativ beeinflussen. Wenn grandiose Narzissten ihre Ziele erreichen wollen, tun sie das möglicherweise auf Kosten anderer. Sie lieben sich selbst am meisten und möchten, dass auch andere bemerken, wie großartig sie sind. Alles und jeder um sie herum dient als Ego-Boost.
3. Verletzlicher Narzissmus
Auf der anderen Seite des grandiosen Narzissten steht der verletzliche. Es sind hypersensiblen Menschen, die im Umgang mit anderen defensiv, rachsüchtig und vermeidend sind. Sie neigen dazu, emotional anfällig zu sein, das bedeutet, dass sie sehr schnell verletzt sind und passiv-aggressiv reagieren. Das Problem bei dieser Art von Narzissmus ist, dass Menschen oft ihre Ego-Bedrohungen für sich behalten. Sie spielen zwar in Gedanken damit und denken im Stillen darüber nach, wie unfair sie behandelt oder als selbstverständlich angesehen wurden, aber sie konfrontieren den anderen nicht direkt damit. Letztendlich ist verletzlicher Narzissmus schmerzhaft für den Einzelnen, aber nicht wirklich schädlich für die Gesellschaft.
Diese Art von Narzissmus kann zu Bedürftigkeit und emotional erschöpfenden Beziehungen führen. Im Gegensatz zum grandiosen Narzissmus, der zunächst aufregend und interessant erscheint und dessen Glanz mit der Zeit verblasst, ist der verletzliche Narzissmus von Anfang an unattraktiv und führt zu angespannten, auslaugenden Interaktionen mit anderen.
Warum ist diese Unterscheidung wichtig?
Wenn wir ein neues Verständnis von Narzissmus haben, können wir auf diese Persönlichkeitsmerkmale bei anderen – und bei uns selbst – auch anders reagieren. Diejenigen, die grandiose Tendenzen in ihrer eigenen Persönlichkeit bemerken, könnten besser darauf achten, ihr egoistisches und gefühlloses Verhalten bzw. ihre Angst und ihr neurotisches Verhalten zu reduzieren.
Veränderung ist immer möglich, aber es braucht zuerst ein Bewusstsein der Probleme und die Bereitschaft, den mutigen Prozess der Selbstfindung zu durchlaufen. Narzissten, die nicht länger bereit sind, auf Kosten echter Beziehungen und Glaubwürdigkeit ein Schauspiel aufzuführen, gibt es Möglichkeiten, sich von der Maske zu trennen und sich schrittweise dem eigenen Selbst zuzuwenden. Und für diejenigen, die mit Narzissten zusammenleben oder arbeiten, ist eine durchsetzungsfähige Kommunikation das wichtigste Mittel, um gesunde und gegenseitig respektvolle Beziehungen aufzubauen.
Der Zweck besteht aber nicht darin, Menschen zu reparieren oder sie zu zwingen, in eine bestimmte Form zu passen. Vielmehr geht es darum, die verschiedenen Arten der narzisstischen Merkmale zu erkennen und zu wissen, dass es Kompromisse braucht, die in jedem Spektrum von Persönlichkeiten auftreten. Die Geschichte des Narzissten ist zum Teil eine Geschichte der Menschen um ihn herum, die um Empathie bitten und darauf pochen, dass wir uns alle mehr umeinander kümmern sollten.