Die zwei Gesichter des Perfektionismus: Zwischen Ansporn und Selbstzerstörung

Vor einigen Jahren arbeitete ich für ein Unternehmen, um ein neues Produkt zu entwickeln. Noch vor unserem ersten Treffen überlegte das Team, wie die Lösung aussehen könnte. Aber statt direkt mit den Kunden zu sprechen, beschlossen sie, zunächst Daten zu sammeln. Sie brauchten für die Suche nach der perfekten Antwort Monate und vermutlich würden sie noch immer suchen, wenn sie nicht den Absprung geschafft hätten.

Dieses Muster begegnet mir in vielen Beratungen und auch persönlichen Coachings. Viele Menschen vermeiden das Tun, indem sie alles Mögliche vorab analysieren, noch mehr Informationen einholen und die Dinge mehrmals hinterfragen. In manchen Fällen ist dieses Handeln Teil einer „Paralyse durch Analyse“-Kultur, in anderen ist es der persönliche Versuch, der eigenen Angst zu entkommen. In jedem Fall aber führt dieses Vorgehen nicht nur zu verschwendetem Aufwand, sondern vor allem zu erheblichen Verzögerungen und Motivationsproblemen.

Nach Exzellenz zu streben ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Der sogenannte „konstruktive Perfektionismus“ ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die dabei hilft, Freude und sogar Erfüllung im Leben zu finden. Um die Dinge so gut wie möglich zu machen, wird der Fokus auf den Prozess gelegt und darauf, aus Fehlern zu lernen. Treibkraft ist die eigene Gewissenhaftigkeit und Selbstdisziplin.

Es gibt aber auch noch eine andere Seite von Perfektionismus, die nicht positiv ist. Wenn nämlich der Glaubenssatz dahinter lautet „Wenn ich alles perfekt mache, kann ich die schmerzhaften Gefühle von Scham, Verurteilung und Schuldzuweisungen vermeiden“, geht es im Grunde darum, die eigene Scham zu unterdrücken und Angst zu vermeiden. Dafür muss die wahrgenommenen Erwartungen an das, was „perfekt“ ist, ständig erfüllt und übertroffen werden. Auch wenn das alles andere als angenehm oder erfüllend ist, halten es viele trotzdem für unbedingt notwendig, ihre Welt so perfekt wie möglich zu gestalten, denn Unvollkommenheit würde für sie Unheil bedeuten. Diese Form des Perfektionismus wird in der Psychologie als „destruktiver Perfektionismus“ bezeichnet. Er ist nicht prozess-, sondern zielorientiert, begleitet von einem Gefühl des ständigen Getriebenseins.

Konstruktive Perfektionisten streben danach ihre persönliche Bestleistung immer wieder zu übertreffen. Das kann jede Menge positive Gefühle auslösen – vor allem, wenn sie es schaffen, ihr Ziel zu erreichen. Destruktive Perfektionisten wollen aber jedes Mal der Gewinner sein. Das Ziel lautet, immer und in allem zu glänzen. Wenn sie das nicht schaffen, sagt ihnen ihre Scham, dass sie nur wenig bis gar keinen Wert besitzen. Sie sind davon überzeugt, dass ihr Bestes nie gut genug ist. Es gibt immer das Nächste zu erreichen. Und dann wieder das Nächste. Und dann das nächste. Die meisten perfektionistisch veranlagten Menschen bewegen sich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen.

Destruktiver Perfektionismus entsteht dann, wenn Menschen ohne einem Gefühl von Unterstützung, Sicherheit und Fürsorge aufwachsen. Es kann auch Folge eines Kindheitstraumata oder kultureller Erwartungen sein, bei denen das perfekte Ansehen zur zwingenden Strategie für das emotionale Überleben und Verletzlichkeit als Schwäche gesehen wird.

Der destruktive Perfektionismus geht oft mit einer Depression einher, die in der Psychologie als „verdeckte Depression“ bezeichnet wird. Dabei spüren die Betroffenen mehr ein Gefühl des Ausgelaugtseins, sie fühlen sich aber nicht deprimiert. Weitere Anzeichen sind, dass sie von einer inneren, sehr kritischen Stimme begleitet werden, ein erhöhtes oder übermäßiges Verantwortungsbewusstsein zeigen und ständig nach neuen Lösungen suchen. Die gute Nachricht ist, dass es gegen den destruktiven Perfektionismus ein Gegenmittel gibt: Selbstakzeptanz. Die schlechte Nachricht lautet, dass es viel Geduld erfordert, um diese Selbstakzeptanz zu erreichen.

Das Wichtigste, um aus diesem Teufelskreis zu entkommen, ist, sich bewusst zu machen, dass der eigene Perfektionismus ein Problem ist und im Außen um Hilfe zu bitten. Das kann sehr schwer sein, weil die meisten Perfektionisten davon überzeugt sind, dass ihr Streben nach Perfektion und Exzellenz gut, normal oder einfach kein Problem ist. Um zu erkennen, dass dem nicht so ist, braucht es Achtsamkeit. Damit meine ich die Art und Weise, wie Sie aufmerksam Ihr Leben und Ihr Verhalten betrachten. Achtsamkeit vertieft Ihr Erleben der Gegenwart.

Es gibt verschiedene Übungen dazu, um Ihre Achtsamkeit zu schulen. Eine meiner liebsten Techniken sieht wie folgt aus: Setzen Sie sich an einen bequemen Ort und stellen Sie eine Uhr auf drei bis fünf Minuten. Atmen Sie tief ein und schließen Sie die Augen. Konzentrieren Sie sich so gut wie möglich auf Ihren Atem, zählen Sie von eins bis zehn und beginnen Sie dann von vorne. Wenn Ihre Gedanken abschweifen (was der Fall sein wird), lassen Sie diese Gedanken sanft los und konzentrieren Sie sich wieder auf Ihre Atmung. Wenn die Zeit abgelaufen ist, nehmen Sie weiterhin mit geschlossenen Augen Ihre Gefühle wahr. Beobachten Sie sie einfach nur. Je mehr Sie Achtsamkeit üben, desto mehr werden Sie bemerken, wie Sie sowohl mit Ihrer äußeren als auch mit Ihrer inneren Welt interagieren, und Sie werden ein besseres Verständnis dafür entwickeln, wie das Bedürfnis, perfekt zu sein, in fast alle Aspekte Ihres Lebens eingedrungen ist.

Perfektionisten tun sich oft schwer, um Hilfe zu bitten, weil sie das Bedürfnis haben, die Kontrolle behalten zu müssen. Sich der eigenen Verletzlichkeit bewusst zu werden, sich der Scham direkt zu stellen, sich mit der Wut auseinanderzusetzen, sich die Müdigkeit einzugestehen, ist natürlich mit Angst und Unsicherheit verbunden. Aber niemand ist makellos. Unser aller Leben spielt sich in einer chaotischen Welt ab, die uns oft überfordert - aber das ist in Ordnung. Scheitern ist keine Schwäche. Das Schöne am Leben sind die Freuden und Schönheiten der Unvollkommenheit als normalen und natürlichen Teil des alltäglichen Lebens und Liebens zu erkennen und mit anderen zu feiern.