Vor etwas mehr als 10 Jahren habe ich alle beruflich sicheren Brücken abgerissen und mich mit meinem Mann auf ein Abenteuer begeben, das bis heute andauert. Wir haben uns als Unternehmensberater selbstständig gemacht und uns in einem Bereich spezialisiert, der per se viel Offenheit und Flexibilität erfordert. Ich liebe diesen Beruf und gehe richtig darin auf: Ich darf Unternehmen bei Veränderungsprozessen begleiten, Innovationen entwickeln, die es bis zur Marktreife schaffen, und Menschen dabei unterstützen, mutig ihr Potenzial zu entdecken. Ich beobachte, höre zu, analysiere, entdecke ständig neue Perspektiven und Möglichkeiten und schaffe Räume, in denen Kreativität sich entfalten kann. Ich bin absolut glücklich und würde keinen anderen Job der Welt mehr diesem vorziehen wollen. Aber als ich damit aber begonnen habe, hatte ich andere Gefühle: Es war zwar alles neu und aufregend, aber ich habe mich auf ein Gebiet begeben, das ich bis dahin nur aus der Theorie kannte. Dazu kam ein Haufen an Bürokratie, den wir erledigen musste und die mir naturgemäß etwas schwer von der Hand geht. Für viele unserer Aufträge reisen wir sehr weit herum und zu Beginn überforderte mich das Gefühl, nie richtig irgendwo angekommen zu sein. Ich war damals nicht direkt unglücklich. Es war nur so, dass ich nicht ständig glücklich und aufgeregt war, sondern auch ängstlich und unsicher. Ich lebte in einem Zustand der Ambivalenz.
Vermutlich haben Sie wie ich bereits irgendwann die Komplexität der Ambivalenz erlebt. Wir begegnen Nuancen davon vor allem in Zeiten der Veränderung, wie wenn wir einen Job annehmen, in eine neue Stadt übersiedeln oder Eltern werden. Aber es müssen nicht nur solche einschneidenden Erlebnisse sein – auch im Alltag ist es ganz normal, dass wir ambivalente Gefühle haben.
Mit ambivalenten Gefühlen meine ich Gefühle, die sehr stark sind, die aber im Gegensatz zueinander stehen. Sie sind zum Beispiel fasziniert von Ihrem Kollegen, aber gleichzeitig finden Sie ihn arrogant und abstoßend. Sie lieben Ihre Eltern, aber Sie haben das Gefühl, dass Sie wahnsinnig in ihrer Gegenwart werden.
Manche Menschen neigen mehr zu ambivalenten Gefühlen als andere. Solche Menschen sehen sowohl die positiven als auch die negativen Seiten und nehmen dann bei wichtigen Themen Widersprüche wahr, die sie vielleicht nicht benennen können, aber von denen sie wissen, dass sie da sind. Es sind Gefühle, wie in einer Diskussion zwischen zwei verschiedenen Meinungen hin- und hergerissen zu sein, weil Sie beiden Seiten etwas abgewinnen können.
Ich erlebe gegensätzliche Gefühle sehr häufig und weiß daher aus eigener Erfahrung, dass dieser Zustand nicht sehr angenehm ist. Denn unsere Emotionen sind eigentlich nützliche Leitplanken für Maßnahmen, die wir später treffen. Wenn Sie aber so wie ich zur Ambivalenz neigen, gibt es immer unterschiedliche Möglichkeiten und es ist nicht gleich auf dem ersten Blick klar, was zu tun ist. Das kann zu Unsicherheit oder ängstlichen Gefühlen führen.
Als ich mich mit dem Thema Ambivalenz näher beschäftigte, fand ich allerdings auch sehr viele positive Seiten: Ambivalenz führt dazu, dass Sie sich mehr Zeit lassen, um Entscheidungen zu treffen. Wenn Sie ambivalente Gefühle erleben, dann betrachten Sie auch eher Gefühle und Ideen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Diese verschiedenen Perspektiven führen wiederum dazu, dass Sie flexibler und aufgeschlossener für unterschiedliche Optionen sind. Studien zufolge können ambivalente Menschen daher leichter neue Verbindungen zwischen nicht verwandten Elementen entdecken, die wiederum zu mehr Kreativität und Innovation führen. Ambivalente Menschen haben auch nachweislich weniger Vorurteile. Das kommt daher, dass Menschen generell Vorurteile oft der Persönlichkeit eines Menschen zu schreiben und dadurch leichter vergessen das Ganze im Kontext zu betrachten. Ambivalente Menschen tappen allerdings seltener in diese Falle und betrachten verschiedene Möglichkeiten und nicht nur das Verhalten einer Person.
Ambivalenz hilft auch dabei, sich selbst freundlicher zu behandeln. Meistens geben wir oft der Situation die Schuld, wenn wir irgendwo schlecht abschneiden oder irgendetwas schief geht. Wenn wir allerdings gut abschneiden, sind es die eigenen Bemühungen, die uns dorthin gebracht haben. Dieses Denken hilft zwar dabei, sich gut zu fühlen, es blockiert allerdings unsere Lern- und Wachstumsfähigkeit. Ambivalente Menschen erkennen, dass ihr Erfolg oder Misserfolg sowohl mit ihren Bemühungen als auch mit den Umständen zu tun haben. Dadurch können sie Situationen realistischer einschätzen und bessere Entscheidungen treffen.
Sie können Ihre Ambivalenz bewusst trainieren: Wenn Sie ein Problem lösen wollen oder vor einer Entscheidung stehen, nutzen Sie die Situation, um Ihre natürliche Ambivalenz zu stärken: Schreiben Sie dazu sowohl die positiven als auch die negativen Aspekte der Sache auf und entwickeln Sie auf diese Weise die Gewohnheit, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Dadurch schulen Sie auch Ihre kognitive Flexibilität und Ihre Offenheit.
Zugegeben, es ist sehr reizvoll, die Welt in schwarz und weiß, gut und böse zu betrachten. Manchmal sind wir glücklich und manchmal sind wir traurig. Dabei ist der Alltag und die täglichen Erfahrungen viel komplizierter: Das Leben ist einfach chaotisch und voller Widersprüche. Infolgedessen sind es auch unsere Gedanken und Gefühle. Die Welt hat uns gerade in den letzten Jahren dazu konditioniert, Komplexität – sowohl im Hinblick auf unsere Identität als auch auf unsere Emotionen – in einem negativen Licht zu betrachten. Wir denken, dass ambivalent zu sein bedeutet, keine klaren Prioritäten zu haben und sich nicht entscheiden zu können. Deswegen versuchen wir Entscheidungen zu treffen, die dieses Gefühl der Ambivalenz minimieren oder vermeiden. Aber Entscheidungen zu treffen, die auf unseren unterschiedlichen Gefühlen basieren, kann dabei helfen, ein glücklicheres, authentischeres Leben zu führen. Es hilft, die manchmal scheinbar konkurrierenden Ziele und Identitäten zu integrieren, anstatt uns zu zwingen, uns zwischen ihnen zu entscheiden.
Anders ausgedrückt: Wenn Sie akzeptieren, dass Ambivalenz eine Tatsache des Lebens ist, können Sie beginnen, Ihre gemischten Gefühle als Chance zu sehen und sie dazu nutzen, sich zu entfalten. Lassen Sie sich nicht von Ihren Gefühlen einschüchtern. Sehen Sie diese Eigenschaft vor allem nicht als Unentschlossenheit oder Schwäche, sondern als Chance, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven betrachten und dadurch die Vielschichtigkeit und Schönheit der Realität sehen zu können.