Psychologen nennen den Effekt, warum Sie sich nach einem anstrengenden Tag so erschöpft und ausgebrannt fühlen, den Ego-Depletion-Effekt bzw. Ego-Erschöpfung. Im Grunde besagt dieser Effekt folgendes: Im Laufe des Tages werden wir ständig von unseren Trieben und Bedürfnissen mit verschiedenen Wünschen und Vorstellungen konfrontiert, die alle nach schneller Befriedigung verlangen. Da wir aber aus verschiedenen Gründen nicht immer diesen Trieben nachgeben können, brauchen wir Selbstkontrolle und Willenskraft zum Widerstehen. Unsere Willenskraft wird dabei allerdings als eine begrenzte Ressource betrachtet, die mit mentaler Energie verbunden ist. Sobald diese Energie ausgegangen ist und der nächste Trieb nach seiner Erfüllung verlangt, verlieren wir die Selbstbeherrschung. Klingt eigentlich logisch, oder?
Neuere Studien deuten nun allerdings daraufhin, dass die Theorie der Ego-Erschöpfung so gar nicht richtig ist. Vielmehr noch: Die Vorstellung, dass Ihre Willenskraft eine begrenzte Ressource ist, kann tatsächlich schlecht für Sie sein. Diese Theorie liefert uns eine perfekte Ausrede, warum wir viel schneller die Kontrolle verlieren und gegen unser besseres Wissen handeln könnten. Und sie hilft uns dabei, uns nicht schlecht zu fühlen, wenn wir unsere Ziele nicht erreichen.
In einer neueren Studie wurde zum Beispiel eindrucksvoll nachgewiesen, dass Ego-Erschöpfung nur dann bei den Probanden beobachtet werden konnten, wenn diese auch glaubten, dass ihre Willenskraft eine begrenzte Ressource wäre. Dazu wurde den Teilnehmenden, sobald sie über Müdigkeit berichteten, eine Limonade mit Zucker zu trinken gegeben, mit dem Hinweis, dass ihnen diese wieder neue Energie geben würde. Danach beobachteten die Forscher die Reaktion der Teilnehmenden. Natürlich war es nicht der Zucker, der ihnen eine zusätzliche Energie gab: Es war vielmehr der Glaube an dessen Wirksamkeit. Die Probanden, die Willenskraft nicht als endliche Ressource betrachteten, zeigten deutlich weniger Anzeichen von Ego-Erschöpfung. Die Forscher resultierten daraus, dass Ego-Depletion im Wesentlichen durch selbstzerstörerische Gedanken und nicht durch irgendeine biologische Einschränkung verursacht wird. Diese Schlussfolgerung nimmt uns allen die Ausrede, warum wir trotz Erschöpfung und Müdigkeit dennoch an unseren Zielen weiterarbeiten können.
Die Sache ist die: Wie Sie die Verbindung zwischen Ihrer Persönlichkeit und Ihrer Willenskraft wahrnehmen, hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Sie in Ihrem Alltag agieren und wohin Sie Ihre Aufmerksamkeit lenken. Wenn Sie mentale Energie als einen Treibstoff in einem Tank betrachten, können Sie eher darauf achten, wie Sie diesen einsetzen. Wenn Sie also z.B. einen Mangel an Motivation als vorübergehend betrachten, können Sie viel produktiver damit umgehen, als wenn Sie sich einreden, dass Sie vollkommen erschöpft sind und eine Pause brauchen.
Nun ist es allerdings manches Mal so, dass manche Gefühle, wie ein Mangel an Motivation, nicht vorübergehend sind. Dadurch versucht das Unterbewusstsein mittels des Körpers unserem Bewusstsein zu übermitteln, dass es an mentaler Energie fehlt und dringend eine Pause oder einen Wechsel notwendig ist. Der Schlüssel hier ist, dass, wenn wir die Perspektive anpassen und Willenskraft wie ein Gefühl und nicht eine begrenzte Ressource behandeln, wir uns viel besser überlegen können, womit wir bewusst unsere Zeit verbringen und womit nicht. Indem wir unseren Mangel an Willenskraft wie eine Emotion sehen – als hilfreicher Entscheidungsassistent, der mit unseren logischen Fähigkeiten zusammenarbeitet – können wir viel einfacher neue Wege finden, die uns nicht unbedingt dazu zwingen, Dinge zu tun, die wir grundsätzlich nicht tun wollen.
Es ist also von entscheidender Bedeutung, was wir uns selbst sagen. Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie keine Willenskraft haben, werden Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich wenig Willenskraft spüren.
Anstatt uns selbst zu sagen, dass wir versagt haben, oder wir irgendwie mangelhaft oder schlecht sind, ist es wichtig, dass wir uns selbst als erstes viel Mitgefühl schenken und freundlich mit und zu uns selbst sprechen. Vergessen Sie nicht: Es liegt in Ihrer Macht und ist Ihre alleinige Entscheidung, ob Sie sich in dem Moment geistig erschöpft fühlen oder nicht.