Vor einigen Tagen ist mir ein Ausschnitt des Werks des Philosophen Laozi in die Hände gefallen "Kümmere dich darum, was andere Leute denken, und du wirst immer ihr Gefangener sein". Leichter gesagt als getan, vor allem in einem Zeitalter, in dem die Technologie in Form der sozialen Medien unsere Köpfe und damit Tür und Tor für jeden Eindringling geöffnet hat.
Das Grundproblem ist meiner Meinung nach allerdings nicht bei den sozialen Medien zu suchen – vielmehr sind wir es selber, die darauf programmiert sind, uns um das zu kümmern, was andere über uns denken (könnten). Die Meinung anderer wichtiger als die eigene zu nehmen, ist eine Folge der Evolution: Menschen sind soziale Wesen, die von jeher in Gruppen lebten. Der Ausschluss aus einer sozialen Gruppe bedeutete den sicheren Tod – sei es durch Hunger, Raubtiere oder Überfälle. Nun sind wir allerdings nicht mehr in der tiefsten Tundra der akuten Gefahr ausgesetzt in der nächsten Sekunde aus dem Hinterhalt von einem Säbelzahntiger angegriffen zu werden. Trotzdem leiden wir mehr denn je unter der Angst, ein anderer könnte uns für eine Bemerkung auslachen oder uns lächerlich finden.
Ob wir es wollen oder nicht, die Meinung derer, die uns ähnlich sind, ist uns mehr als nur wichtig – unser gesamtes Wohlbefinden hängt davon ab. Das menschliche Hirn aktiviert dieselben neuronale Areale bei körperlichem Schmerz wie bei sozialer Ablehnung. Dabei hat die Meinung anderer Leute im Grunde nicht viel mit uns persönlich zu tun, sondern nur mit ihnen selbst – mit ihrer eigenen Vergangenheit, ihren Erwartungen, ihren Urteilen, Vorlieben und Abneigungen.
Die Sorge um die Meinung anderer beeinträchtigt aber nicht nur unsere Empfindung. Sie beeinflusst auch unsere Entscheidungen, was wir in einer bestimmten Situation tun sollen. Wenn Sie sich darum kümmern, was andere über Sie denken, gehen Sie fast automatisch auf Nummer sicher. Die Angst davor, was auf der anderen Seite der Kritik auf Sie wartet, wächst. Die Möglichkeit für eine Aussage oder Idee ausgelacht oder abgelehnt zu werden, führt letztlich dazu, den eigenen Standpunkt aufzugeben und sich lieber bedeckt zu halten. Das ist ein Problem, dem ich immer wieder begegne – nicht nur in Design-Thinking-Workshops, wo es darum geht, neue Ideen zu entwickeln, sondern auch in den Coachings, wo erst bewusst wird, wie wenig das eigene Potenzial gelebt wird.
Kein Mensch ist vor dieser Angst geschützt, sie ist zutiefst in uns verankert. Wann immer ich einen Vortrag halte und auf der Bühne stehe, bekommen alle Menschen dasselbe von mir zu sehen und zu hören. Manche von ihnen mögen mich vielleicht nicht, weil ich sie vielleicht unbewusst an jemanden erinnere, andere mögen mich vielleicht gerade deswegen. Manche verstehen genau, was ich sage, während andere meine Worte aufgrund ihrer eigenen Erfahrung vollkommen anders interpretieren. Ich versuche immer mein Bestes zu geben, aber ich habe mit der Zeit aufgehört, jeden gefallen zu wollen. Ihre Meinungen über mich werden immer unterschiedlich sein. Egal, was ich also tue, es wird immer Menschen geben, die mich nicht mögen werden - und ich kann nichts dagegen tun, weil es nicht viel mit mir zu tun hat.
Wenn Sie sich bewusst werden, dass Sie sich viel zu oft damit beschäftigen, was andere über Sie denken, ist das bereits ein guter Anfang. Bleiben Sie hier allerdings nicht stehen, sondern beginnen Sie damit, aktiv Ihre Einstellung zu ändern. Sie haben es in der Hand, dass Ihnen die Meinung anderer nicht mehr wichtig ist.
Starten Sie damit, indem Sie Ihre persönliche Philosophie entwickeln – ein Wort oder einen Satz, der Ihre grundlegenden Überzeugungen und Werte ausdrückt und Ihnen so als Taschenlampe dient, die Sie durch die dunklen Straßen führt. Ein schwaches Licht kann Sie natürlich auch an Ihr Ziel bringen, aber Sie werden viel eher dabei stolpern und sich verletzen oder sich verlaufen. Je heller das Licht ist, das Sie führt, desto klarer und eindeutig werden Sie Ihren Weg sehen und damit für Sie bessere Entscheidungen treffen.
Mir selbst war lange nicht klar, was mir wirklich wichtig war und oft fühlte ich mich verloren. In mir nagte ein Gefühl der Unsicherheit und ich hinterfragte jede Entscheidung, die ich traf. Die Arbeit an meinen Grundwerten hatte einen großen Einfluss auf mein Leben. Mir wurde klar, dass Selbstverantwortung und Empathie meine wichtigsten Werte sind. Wenn ich jetzt meine Entscheidungen treffe, erinnere ich mich daran, dass ich keine Opferrolle mehr annehmen, sondern volle Verantwortung für mein Denken und Handeln übernehmen will.
Um Ihre persönliche Philosophie zu finden, stellen Sie sich folgende Fragen: "Wenn ich in Bestform bin, welche Überzeugungen liegen direkt unter der Oberfläche meines Verhaltens?" "Welche Menschen sind mir wichtig und welche Eigenschaften haben sie?" Wenn Sie diese Fragen beantworten, bekommen Sie ein besseres Gespür für die Werte, die Sie leiten. Diese Klarheit hilft Ihnen dabei, sich selbst mehr zu pushen, zu lernen und den Lärm anderer auszublenden.
Holen Sie sich auch Feedback von Personen, die Ihnen wichtig sind. Ehrliche Reflexion ist ein wesentlicher Bestandteil des Wachstums. Diese Personen sollten aber ein gutes Gespür für den Menschen haben, der Sie sind, und für den Menschen, der Sie werden möchten. Respektieren Sie deren Meinungen und kalibrieren Sie dieses Feedback mit Ihrer Erfahrung.
Laozi hat im Übrigen weitergeschrieben "Ignorieren Sie, was andere denken und die Gefängnistür wird aufschwingen". Vergessen Sie nicht: Sie sitzen vielleicht aktuell im Gefängnis der Beurteilung, aber Sie haben auch den Schlüssel zur Freiheit in der Hand. Wachstum und Lernen finden immer dort statt, wo Ihre Komfortzone endet. Wenn Sie Ihr Leben im Einklang mit Ihren persönlichen Werten leben und zu dem stehen, wer Sie wirklich sind, können Sie authentisch und mit mehr Bedeutung leben und arbeiten.