Es ist sehr einfach, sich in einer Woche und sogar im Monat zu verlaufen. Getrieben von Terminen und Verpflichtungen dauert es gefühlt keinen Wimpernschlag und schon ist ein ganzes Jahr vorbei. Ich selbst liebe es, ständig neue Aktivitäten und Möglichkeiten zu verwirklichen und mich in den Moment einzulassen. Ich fühle mich aber auch sehr verbunden mit meinen Werten, mit dem, wer ich bin und auch mit den Menschen, mit denen ich arbeite und denen ich begegne.
Diese Verbindung ist aber nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis einer langen Reise. Mehrmals im Monat nehme ich mir bewusst Zeit, zu reflektieren. Mal gemeinsam mit meinem Mann, mal alleine oder mal mit anderen Personen. In dieser Zeit konzentriere ich mich auf Fragen zu Zielen, Verhalten und auch meinem momentanen Gemütszustand.
In den vergangenen Weihnachtstagen war es wieder Zeit für einen solchen Diskurs. Dieses Mal durfte ich mit meinen Onkel und meinen Mann auf die gedankliche Reise gehen. In dem Gespräch ging es hauptsächlich um die Frage, was uns Menschen als Lebewesen ausmacht bzw. was uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Für mich ist das ganz klar die Fähigkeit zur (Selbst)reflexion - was meinen Sie?
Der Gedanke der Selbstreflexion geht bis zu den alten Griechen zurück. Einer der ersten Philosophen, der sich damit beschäftigt hat, war Epiktet. Sein richtiger Name ist unbekannt (Epiktet bedeutet so viel wie “das, was gekauft wurde”). Als Sklave um 50 n.Chr. in Hierapolis, Phrygia, geboren, war er durch ein verkrüppeltes Bein gekennzeichnet. Epiktet sah seine eigene Lahmheit zwar als ein körperliches Hindernis, aber nicht als ein Hindernis für seinen Willen.
Epiktets Besitzer, ein reicher Freigelassener und Sekretär des römischen Kaisers Nero, erlaubte ihm, die stoische Philosophie zu studieren. Nach dem Tod Neros im Jahr 68 n. Chr. wurde Epiktet freigelassen und unterrichtete Philosophie in Rom, bis Kaiser Domitia alle Philosophen aus der Stadt verbannte. Danach ließ sich Epiktet in Griechenland nieder, wo er eine Philosophieschule eröffnete.
Epiktet galt als ein äußerst sensibler, bescheidener und sehr intelligenter Mann, der in einfachen Verhältnissen lebte. In seiner philosophischer Lehre sprach er davon, dass das Glück der Dinge immer im Inneren und niemals im Äußeren - abhängig von anderen - zu finden sei. Epiktet betrachtete berufliche Leistungen, Wohlstand, Macht und Ruhm als unbedeutend und irrelevant für das wahre Glück. Das wahre Glück ist vielmehr in der Art und Weise des eigenen Lebens zu finden. Der Fokus des Lebens sollte auf dem moralischem Fortschritt, der ständige Weiterentwicklung unseres Verhaltens und unseres persönlichen Charakters liegen. Es geht dabei aber nicht darum, gute Taten zu vollbringen, um womöglich so die Gunst bei den Göttern oder die Bewunderung anderer zu erlangen. Vielmehr ist damit die innere Gelassenheit und damit persönliche Freiheit gemeint.
Wir können sicher nicht immer unsere Umstände selbst wählen, aber wir haben immer die Wahl, wie wir darauf reagieren. Letztlich gibt nichts Gutes oder Schlechtes, nur unser das Denken macht es zu solchem.
Ein Großteil der Gesellschaft konzentriert sich vor allem auf das Oberflächliche und Sichtbare. Dieses Denken geht auf Kosten der wahren Bedeutung. Viele legen mehr Wert auf den eigenen Status, den Wohlstand und die körperliche Erscheinung als auf den Charakter und das Gemeinwohl. Wir beneiden Social-Media-Stars, die sorgfältig ausgewählte Fitness- und Reisefotos veröffentlichen. Hat aber wirklich eine Art oberflächlicher Egoismus in unserer Seele Einzug gehalten und damit die Neigungen zu Tugend und Empathie für andere ersetzt?
Viel zu selten denken wir darüber nach, was für uns persönlich ein sinnvolles Leben ausmacht. Es ist einfacher anderen die Entscheidung, was sinnvoll und wichtig ist, zu überlassen. Wir wissen zwar, wie man erfolgreich ein Unternehmen aufbaut, wie man eine komplizierte Software programmiert oder ein neues Produkt vermarktet. Wir sind aber nur selten gerüstet für die wichtigeren Fragen des Lebens.
Je eher wir damit anfangen, zu hinterfragen, worauf es uns persönlich wirklich ankommt, wohin wir gehen wollen und wer wir sind, desto bedeutungsvoller wird unser Leben. Darin steckt die wahre Macht. Das ist die Kraft der Selbstreflexion.
Mit Fragen wie “Übe ich einen positiven Einfluss auf andere aus?” können wir Kurskorrekturen vornehmen und unseren Charakter vertiefen. Mahatma Gandhi prägte den Spruch, dass wenn wir etwas verändern wollen, wir zunächst selbst die Veränderung sein sollten, die wir sehen möchten.
Wir müssen aufhören, Dinge in der Hoffnung zu tun, dadurch die Aufmerksamkeit anderer zu gewinnen. Viel wichtiger ist es, dass wir Dinge tun, die uns zu innerlicher Gelassenheit führen, denn nur so gewinnen wir an persönlicher Freiheit. Es fühlt sich einfach gut an, etwas zu tun, das uns richtig erscheint.
Wann immer wir uns bemühen, das für uns Richtige zu tun, investieren wir nicht nur in unseren Charakter, sondern verbreiten vor allem ein neues Denken in der Welt. Wenn wir freundlich zu anderen sind, wenn wir darüber nachdenken, wie sich andere fühlen, dann können wir wirklich etwas ändern.
Denn das Wichtigste im Leben ist nicht der persönliche Lebensstil, sondern der Charakter, der uns und auch diejenigen, denen wir begegnen, prägen. Das erfordert mehr als bloß eine gute Absicht. Es erfordert, dass wir bewusst Maßnahmen setzen. Wir sind in der Pflicht dafür zu sorgen, dass etwas passiert und wir so einen Unterschied machen.
Wenn Sie Ihre Talente und Fähigkeiten einsetzen, um anderen zu helfen, einen Zustand zu verbessern oder die Welt zu einem besseren Ort zu machen, leben Sie die Art von tugendhaftem Leben, für die Epiktet eintrat. Die Kraft seiner Philosophie liegt in ihrer Fähigkeit, Selbstreflexion zu leben.
Denn wenn wir wirklich über unsere Ideen und unser Handeln nachdenken und überlegen, wer wir wirklich sein wollen, öffnen wir die Tür zu positiven Veränderungen und persönliches Wachstum. Schließlich können wir es uns nicht leisten, nur darüber nachzudenken, das Richtige zu tun. Wir müssen den Mut haben, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Und ein erster Schritt ist es, alleine oder auch mit anderen ab und an bewusst über das eigene Tun, Sein und Handeln nachzudenken. In diesem Sinne möchte ich mich herzlich bei meinem Onkel und meinem Mann für die Denkanstöße bedanken.