Als Kultur behandeln wir das Zuhören wie einen automatischen Prozess, über den es nicht viel zu sagen gibt: Im Grunde wird Zuhören in die gleiche Kategorie gesteckt wie Verdauen oder Atmen. Wird das Konzept des aktiven Zuhörens dann doch angesprochen, dann wirkt es, als würde es nur Führungskräfte betreffen, die dazu ein Training besuchen sollen.
Gutes Zuhören ist aber so viel mehr als einfach nur weniger oder gar nichts zu sagen. Es beginnt damit, echtes Interesse an anderen Menschen zu zeigen, anstatt zu versuchen, während eines Gesprächs den eigenen Status unter Beweis zu stellen. Es geht auch nicht darum, Ratschläge zu geben, wie jemand etwas besser machen könnte. Selbst mit den besten Absichten verfallen wir schnell in die Rolle eines Predigers, der von seiner Kanzel aus nach unten vor dem Bösen warnt. Dazu kommt, dass die meisten Menschen anfällig sind für den Wunsch, Probleme zu lösen und Antworten zu geben. Die Sache ist nur die: Die wenigsten Personen erhoffen sich bei Gesprächen eine Person, die ihre Probleme löst. Vielmehr wünschen wir uns alle im Grunde einen Menschen, der Mitgefühl zeigt und sich Zeit nimmt, um einfach nur zuzuhören.
Studien zeigen, dass Ärzte ihre Patienten innerhalb der ersten 15 Sekunden unterbrechen, obwohl Patienten ungefähr eine halbe Minute benötigen, um ihre Symptome zu beschreiben. Aber auch in der Arbeit ist gutes Zuhören selten: Unter den Führungskräften, die von ihren Mitarbeitenden als die schlechtesten Zuhörer eingestuft wurden, bewerteten sich mehr als 90 Prozent selbst als gute oder sehr gute Zuhörer.
Dabei zeigt sich, dass die Interaktion mit einem einfühlsamen, nicht wertenden, aufmerksamen Zuhörer Menschen weniger ängstlich und weniger defensiv macht. Probanden in Studien hatten deutlich weniger Stress, Widersprüche in ihrem Denken zu vermeiden. Das wiederum führte dazu, dass sie ihre eigene Meinung hinterfragten, besser argumentierten und letztlich viel offener waren.
Gutes Zuhören ist sicherlich komplex und subtil, aber es ist vor allem allgegenwärtig und wir können jeden Tag daran arbeiten. Wie ein Muskel kann er trainiert werden. Im selben Moment spornt Zuhören sowohl unser eigenes Wachstum als auch das Wachstum anderer an. Menschen lernen von anderen Menschen und gutes Zuhören ist der einfachste Weg, die Tür zu jemanden zu öffnen.
Es gibt dazu eine gute Übung, wie Sie selbst Ihre Fähigkeit im guten Zuhören verbessern können: Setzen Sie sich mit Menschen zusammen, bei denen Sie wissen, dass Sie ihre Meinung im Normalfall nicht teilen. Sagen Sie ihnen, dass Sie daran arbeiten ein besserer Zuhörer zu werden. Und dann hören Sie ihnen einfach nur zu - bevor Sie antworten. Bei dieser Übung geht es darum, die Gelegenheit zu nutzen, neue Perspektiven zu finden und die eigene zu erweitern.
Wann immer ich diese Übung in Unternehmen mache, wird mir gesagt, dass der schwierigste Teil des Zuhörens darin besteht, nicht zu sprechen. Es liegt eine tiefe Demut im Zuhören, weil Sie sich darauf konzentrieren, die andere Person zu verstehen, anstatt alles zu sagen, was Ihnen in den Sinn kommt. Das Ziel ist, den Sprecher zu verstehen und ihm dabei zu helfen, sich verstanden zu fühlen.
Das schönste Geschenk, das wir einander machen können, ist, nach der Meinung eines anderen zu fragen und gespannt auf dessen Antwort zu warten. Ich unterbreche noch immer, beende deren Sätze und gleite mit meinen Gedanken weg. Aber ich bleibe dran und lerne. Und ich öffne mich für alles, was ich lernen kann. Zuhören ist nicht nur ein Geschenk für andere, es ist auch das schönste Geschenk an uns selbst.