Letztens habe ich ein Unternehmen bei der Einstellung einer Führungskraft beraten. Auf die berühmte Frage nach den eigenen Schwächen, folgte die fast noch berühmtere Antwort "Ich bin leider perfektionistisch veranlagt." Perfektionismus wird in unserer Gesellschaft gerne als eine Art Abzeichen der Erfolgreichen hochgehalten.
Perfektion suggeriert, dass es einen Zustand der Makellosigkeit gibt. Es impliziert ein Niveau der eigenen Leistungen und Handlungen, das scheinbar nicht mehr übertroffen werden kann. Allerdings ist die Geschichte vom Erreichen des Ziels, im Leben perfekt zu sein, immer eine, die ausnahmslos von Stress und Schmerz geprägt ist. Selbst Maschinen erreichen niemals Perfektion auf Dauer. Auch sie erfahren im Laufe der Zeit Verschleißerscheinungen und benötigen Reparaturen.
Wir leben in einer visuellen Kultur, die das eigene Leben anhand von Erfolgen und Leistungen misst. Der Anschein von Perfektion wird als weitaus wichtiger als die Realität geschätzt. Das führt zu einem Verlust über die Bedeutung eines wirklich guten Lebens. Staunen, Ehrfurcht, Freude über kleine Erfolge sind nur ein paar der Dinge, die durch Perfektion zerstört werden. Zahlreiche klinische Fallstudien berichten von einer Vielzahl an psychologischen Problemen, die Perfektionismus verbirgt, darunter Depressionen, Angstzustände, Anorexie, Bulimie, suizidale Gedanken. Trotzdem ist die Bewunderung für Perfektion so allgegenwärtig, dass wir nur selten dieses Konzept hinterfragen.
Das menschliche Streben nach Perfektion ist ein Deckmantel der Unsicherheit. Es wird zu einer Aussage, dass man selbst nicht gut genug ist, so wie man ist. Denn nichts ist unerreichbar für diejenigen, die es nur dringend genug wollen und die hart genug daran arbeiten. Diese Idee verbindet unseren Reichtum, unseren Status und unser Image mit unserem angeborenen, persönlichen Wert. Aber selbst wenn es solche Dinge wie Chancengleichheit wirklich gäbe, verschleiert die Vorstellung, dass wir die Kapitäne unseres eigenen Schicksals sind, eine andere Realität. Denn es gibt nun mal Maßstäbe, Metriken, Rankings.
Perfektionisten neigen zum Denken, dass andere Menschen irgendwie besser oder überlegen sind. Um sie aufzuholen, müssen sie selbst fehlerfrei sein. Ein schrecklich schädlicher Glaubenssatz. Entgegen der landläufigen Meinung geht es beim Perfektionismus nie darum, Dinge oder Aufgaben zu perfektionieren. Es geht nicht um das Streben nach Exzellenz. Es geht darum, ein unvollkommenes Selbst zu perfektionieren. Gesellschaftlich anerkannte Perfektionisten haben ein unerbittliches Bedürfnis, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Deswegen reagieren sie so empfindlich auf die Urteile anderer. Selbst wenn sie es schaffen, die alten Erwartungen an Perfektion erfüllen, legen sie die Messlatte noch höher, denn sie glauben, dass je besser sie sind, desto bessere Leistung wird von ihnen erwartet.
Perfektion ist ein Konstrukt des Geistes. Ironischerweise würden wahrscheinlich nur sehr wenige Menschen Perfektion bei einem anderen Menschen tolerieren. Denn das perfekte Individuum würde alle anderen ständig an die eigenen Mängel erinnern. Ganz zu schweigen davon, dass es wahrscheinlich nicht viel Spaß machen würde, mit einer solchen Person zusammen zu sein.
Das Streben nach Perfektion schränkt vor allem unsere Fähigkeit ein, präsent zu sein. Es beraubt uns buchstäblich der Vitalität des Lebens. Unsere wertvolle Lebenszeit wäre allerdings viel besser eingesetzt, wenn wir uns mit der Frage beschäftigen würden, wie wir die Unsicherheit überwinden können, die den Wunsch nach Perfektion überhaupt erst initiiert hat.
Niemand ist fehlerlos. Scheitern ist nicht Schwäche. Vielmehr gilt es, die Freuden und Schönheiten der Unvollkommenheit als normalen und natürlichen Teil des täglichen Lebens zu feiern.