Bis hierher und nicht weiter

Das Gefühl, nicht genug zu sein, verleitet dazu, sich in die Arbeit zu stürzen. Hinter der Arbeitswut versteckt sich oft die Hoffnung, den eigene Wert durch Nützlichkeit und Unverzichtbarkeit zu steigern. Das Paradoxe daran ist allerdings, dass je mehr wir tun, desto weiter weg ist das Gefühl genug zu sein. Denn auch die Erwartungshaltung von uns selbst und von den anderen wächst mit und die Messlatten werden immer höher gelegt. Dabei ist jeder Mensch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen, Fähigkeiten, Fachkenntnisse, Energie und Perspektiven, die nur er oder sie selbst bieten kann, bereits wertvoll. Es gibt keine zweite Person, die exakt so ist wie Sie – auch mit Ihren Macken und Eigenheiten.

Wenn Sie sich Ihrer eigenen Erfahrungen, Fähigkeiten, Fachkenntnisse, Energie und Perspektiven bewusst sind, dann wissen Sie auch, welche Projekte Sie angehen können und welche Sie besser sein lassen sollten. Sie wissen dann, was Sie motiviert. Und Sie spüren sofort, wenn jemand Ihre Grenzen überschreitet.

Gesunde Grenzen erkennen Sie vor allem an einem Bewusstseinswandel. Sie wissen einfach, wann beispielsweise Zeit für den Feierabend ist - ohne schlechtem Gewissen. Gerade Grenzen im Arbeitskontext sind deswegen auch so wichtig: Wenn wir keine Grenzen setzen, verschmelzen wir schnell mit der Arbeit und vergessen, dass wir so viel mehr sind als nur der Job.

Feste und klare Grenzen zu setzen und diese auch einzufordern bedeutet aber nicht, dass wir nicht an die Arbeit denken dürfen. Diese Grenzen ermutigen uns vielmehr dazu, bewusst Zeit zum Aufladen zu nehmen und sie erinnern uns, wann es Zeit ist, konzentriert zu arbeiten.

Wir können die Arbeit, die wir gerne tun, mit voller Leidenschaft ausüben – erfüllt, zielstrebig und motiviert – und dabei wunderbar ausbrennen. Je leidenschaftlicher wir uns bei einer Sache fühlen, desto einfacher ist es, Rechtfertigungen für die langen Stunden zu finden. Unser Antrieb ist allerdings nicht unbegrenzt. Wir bekommen die Energie nur, wenn wir uns auch zurückziehen und ein Leben außerhalb der Arbeit aufbauen, das uns ebenfalls Freude bereitet.

Mit der Verherrlichung der Arbeit tun Sie niemandem einen Gefallen. Es sind die Menschen, die abschalten können, die es richtig machen - nicht die, die an beiden Enden die Kerze anzünden und ihre Bedürfnisse ignorieren. Niemand würde absichtlich ein Bild einer total kaputten, müden und antriebslosen Person als Zielbild visualisieren. Aber das ist es, worauf wir zusteuern, wenn wir ohne schützende Grenzen weitermachen.

Gerade zu Beginn, wenn wir noch unsicher sind, was die eigenen Grenzen betrifft, schleichen sich gerne Entschuldigungen ein. Wir sagen dann Dinge wie „Entschuldigung, ich will nicht nerven, aber könnten wir kurz über dieses oder jenes sprechen?“. Wenn Sie sich entschuldigen, verwässern Sie Ihre eigentliche Botschaft und sie wird unklar. Dabei ist es vollkommen in Ordnung, Grenzen zu setzen. Es ist in Ordnung, die eigene Meinung zu ändern. Es ist in Ordnung, eine andere Sichtweise auf eine Situation zu haben. Es ist in Ordnung, selbstbewusst zu sein. Sie brauchen sich dafür nicht zu entschuldigen oder eine Rechtfertigung anzubieten.

Letztendlich können wir nicht kontrollieren, wie andere auf unsere Grenzen reagieren. Selbst wenn wir sie mit größter Feinfühligkeit aussprechen, kann sich der andere dennoch verletzt, beleidigt oder verwirrt fühlen – und das ist in Ordnung. Aber wenn wir diese kritischen Gespräche vermeiden, schaffen wir Bedingungen, in denen Groll, Wut und Frustration schnell überkochen und sich unadressiert entladen. Und das ist für jede Beziehung verheerender, als es das Gespräch über Grenzen je gewesen wäre.

Es ist nicht nur unser Recht, sondern es liegt auch in unserer Verantwortung, gesunde Grenzen zu setzen. Auch wenn es unangenehm oder beängstigend ist. Es liegt in unserer Verantwortung, unsere Bedürfnisse und Einschränkungen anderen mitzuteilen. Wenn wir das nicht tun, übergeben wir an andere die Last, unsere Bedürfnisse zu erkennen – und das ist eine Last, die niemand tragen sollte.

Zu lernen abzuschalten und Grenzen zu setzen, ist ein langer Weg. Aber es muss Platz für Pausen sein. Wir alle haben eine begrenzte Menge an Energie für die Herausforderungen, die wir jeden Tag zu bewältigen haben. Wir setzen keine Grenzen, weil wir jemanden nicht mögen oder nicht genug Zeit für ihn oder sie haben, sondern weil wir unsere eigene Gesundheit und unser Wohlbefinden priorisieren müssen, bevor wir uns wirklich gut um etwas anderes kümmern können.