Warum wir die Büchse der Pandora jeden Tag neu öffnen sollten

Letzte Woche saß ich in der Straßenbahn und beobachtete eine Mutter mit ihrem etwa fünfjährigen Sohn. Der Junge hatte gerade sein Getränk verschüttet und begann zu weinen. Statt ihn zu trösten, seufzte die Mutter: „Siehst du, deshalb kann man dir nichts geben!“ In diesem Moment dachte ich an die Büchse der Pandora – und daran, wie falsch wir diese uralte Geschichte oft verstehen.

Falls Sie die Geschichte nicht kennen, hier eine kurze Einführung: Pandora war die erste Frau, von den Göttern erschaffen – nicht zufällig, sondern als Teil eines Plans. Nachdem Prometheus den Menschen das Feuer gebracht hatte, schmiedete Zeus einen Gegenschlag: Er ließ Pandora erschaffen – schön, begabt, voller Anmut, aber auch mit einem Geschenk, das eher eine List war. Sie erhielt ein verschlossenes Gefäß, manchmal als Büchse, manchmal als Krug beschrieben, und den strikten Auftrag: „Öffne es niemals!“

Aber hier ist der Haken: Die Götter hatten ihr auch die Neugier mitgegeben. Das ist, als würde man einem Kind Süßigkeiten hinstellen und streng sagen: „Finger weg!“ – was glauben Sie, wie das endet?

Natürlich öffnete Pandora das Gefäß. In dem Moment entwichen alle Übel der Welt: Krankheit, Krieg, Hunger, Alter, Verzweiflung. Sie versuchte noch, den Deckel zuzuschlagen, doch es war zu spät – fast alles war entkommen. Nur eines blieb zurück, eingeschlossen im Gefäß: Elpis, die Hoffnung.

Über Jahrhunderte haben wir diese Geschichte als Warnung erzählt: Siehst du, so gefährlich ist die Neugier. Aber mal ehrlich: Warum ausgerechnet die Hoffnung im Krug zurückblieb, ist die eigentliche Frage. Vielleicht, weil die Menschheit ohne sie längst aufgegeben hätte.

Hier wird es philosophisch komplex, und hier hätten Nietzsche und die moderne Glücksforschung einen heftigen Disput geführt.

Nietzsche betrachtete die Hoffnung nicht als Segen, sondern als das schlimmste aller Übel. In seinem Werk schreibt er: „Die Hoffnung ist das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert“. Seine Logik? Hoffnung hindert uns daran, die Realität zu akzeptieren. Sie lässt uns in einer Fantasie der Zukunft leben, anstatt die Gegenwart vollständig zu erfahren.

Das steht im direkten Widerspruch zu dem, was die positive Psychologie lehrt. Studien von Forschern wie Charles Snyder zeigen konsistent, dass Menschen mit höherer „hope agency“ – der Fähigkeit, Wege zu Zielen zu finden – bessere mentale Gesundheit und größere Lebenszufriedenheit aufweisen.

Wer hat recht? Meiner Erfahrung nach – beide. Und das ist das Faszinierende an der Pandora-Geschichte.

Mit 23 Jahren stand ich selbst vor einer Entscheidung, die mich monatelang gequält hat. Sollte ich meine sichere Karriere aufgeben, um mich selbstständig zu machen und zu schreiben? Meine Freunde hielten mich für verrückt. „Warum öffnest du diese Büchse?“, fragten sie. Ehrlich gesagt, konnte ich es ihnen nicht erklären, ich wusste es selbst nicht.

Genau dann hilft Pandoras Geschichte am meisten. Nicht, weil sie verspricht, dass alles gut wird, sondern weil sie das Nebeneinander von Leid und Möglichkeit normalisiert.

Neuere Studien der positiven Psychologie bestätigen diesen kontraintuitiven Befund. Sie zeigen, dass Menschen, die negative Emotionen akzeptieren und gleichzeitig Hoffnung auf Wachstum bewahren, bessere mentale Gesundheitsergebnisse erleben als jene, die einfach „positiv bleiben“ sein wollen.

Forscher der Universität Rochester haben 2019 auch herausgefunden, dass Menschen, die regelmäßig ihre „Pandora-Büchsen“ öffnen – also bewusst neue Erfahrungen suchen, auch wenn sie zunächst beängstigend erscheinen –, höhere Werte bei Lebenszufriedenheit zeigen. Sie entwickeln das, was Psychologen „adaptives Bewältigungsverhalten“ nennen.

Nun ist das alles leichter gesagt als getan, wenn man wie ich jahrelang ein professioneller Büchsen-Vermeider war. In meiner Arbeit stelle ich fest, dass wir alle täglich mit drei Arten von Pandora-Büchsen konfrontiert werden:

  1. Die Beziehungs-Büchse: Das schwierige Gespräch mit dem Partner, dem Chef oder einem alten Freund. Wir zögern, weil wir Konflikte fürchten. Doch Studien zeigen, dass Menschen, die regelmäßig „schwierige“ Büchsen öffnen – ehrlich über Probleme sprechen –, langfristig glücklicher sind.

  2. Die Karriere-Büchse: Der Jobwechsel, die Weiterbildung, das Risiko des Scheiterns. Harvard-Forscherin Amy Edmondson hat bereits mehrfach nachgewiesen, dass Menschen, die bereit sind, berufliche Büchsen zu öffnen, nicht nur erfolgreicher werden, sondern auch ein stärkeres Gefühl von Sinnhaftigkeit entwickeln.

  3. Die Lern-Büchse: Neue Fähigkeiten, fremde Perspektiven, unbequeme Wahrheiten. Neurowissenschaftler zeigen, dass unser Gehirn durch bewusste Konfrontation mit Neuem bis ins hohe Alter plastisch bleibt.

Ich begleite einen CEO – nennen wir ihn Andreas –, der mir vor etlichen Jahren erzählte, wie er jeden Morgen aufwachte und wusste, dass sein Unternehmen langsam starb. Alle redeten über „digitale Transformation“, aber er hatte Angst vor den Kosten. „Was, wenn wir Millionen ausgeben und es trotzdem nicht funktioniert?“, fragte er mich. Drei Monate später rief er mich an: „Ich habe gerade begriffen, dass Nichtstun das größte Risiko von allen ist“.

Wenn ich an meinen schlechten Tagen merke, dass ich wieder alle Büchsen fest verschlossen halte, helfen mir drei Dinge:

  • Ich stelle mir eine andere Frage: Wenn mein Gehirn anfängt, Katastrophenszenarien zu durchleben („Was, wenn ich versage? Was, wenn alle denken, ich bin ein Idiot?“), zwinge ich mich zu fragen: „Was könnte ich dabei lernen?“ Klingt simpel, ist es auch. Aber diese kleine Verschiebung verändert tatsächlich, welche Teile meines Gehirns aktiv werden. Angst weicht Neugier.

  • Ich versuche kleine Schritte zu gehen, auch wenn sie sich oft albern anfühlen: Ein Gespräch beginnen, das ich seit Wochen aufgeschoben habe. Eine E-Mail schreiben, die in mir Unbehagen verursacht. Meist passiert nichts Dramatisches, aber manchmal merke ich, wie sich ein kleiner Knoten in mir löst.

  • Ich jage der Hoffnung nach. Jeden Abend schreibe ich eine Sache auf, die an diesem Tag gut gelaufen ist – selbst an den Tagen, wo alles schief ging. Klingt kitschig? Ist es auch. Funktioniert trotzdem. Mein Gehirn lernt langsam, auch in schwierigen Situationen nach den Lichtblicken zu suchen.

Vielleicht haben beide sowohl Nietzsche als auch die Anhänger der positiven Psychologie recht. Vielleicht gibt es zwei Arten von Hoffnung: Die passive, die uns warten lässt („irgendwie wird schon alles gut“), und die aktive, die uns handeln lässt. Die erste ist möglicherweise das Gift, vor dem Nietzsche warnte. Die zweite könnte das sein, was die Psychologen meinen, wenn sie von „agency“ sprechen.

Der griechische Philosoph Epiktet lehrte: „Es sind nicht die Ereignisse selbst, die uns beunruhigen, sondern die Urteile, die wir über sie fällen“. Die Büchse der Pandora ist neutral – erst unsere Interpretation macht sie zu Fluch oder Segen.

Zurück zu der Mutter in der Straßenbahn: Was wäre gewesen, wenn sie gesagt hätte: „Ups, das ist passiert. Was kannst du daraus lernen?“ Vielleicht hätte sie ihrem Sohn beigebracht, dass in jedem Missgeschick eine Chance liegt. Oder vielleicht – und hier hätte Nietzsche zugestimmt – hätte sie ihm einfach die Realität gezeigt: Manchmal verschüttet man Getränke. Das ist weder gut noch schlecht. Es ist einfach, wie es ist.

Überall um uns herum warten verschlossene Büchsen darauf, geöffnet zu werden. Die Frage ist nicht, ob das Öffnen Herausforderungen freisetzen wird – das wird es. Die Frage ist, ob die Hoffnung am Boden ein Geschenk ist.

An guten Tagen glaube ich an das Geschenk. An schlechten Tagen verstehe ich Nietzsches Warnung. Aber vielleicht ist genau diese Ungewissheit das Menschlichste von allem: Dass wir die Büchsen trotzdem öffnen, obwohl wir nicht wissen, was uns erwartet.

Manchmal ist das alles, was wir brauchen: Die Bereitschaft zu glauben – oder wenigstens zu hoffen –, dass am Boden jeder Büchse etwas wartet, das das Öffnen wert war.