Sind Sie ein Konversationsnarzisst?

Ein gutes Gespräch zu führen, ist eine Fertigkeit, die die meisten von uns erst erlernen müssen. Viel zu oft sehen wir Gespräche als Chance, um uns und anderen zu beweisen, wie klug wir sind oder wie viel wir wissen. Wir möchten unsere Meinungen und unsere Gedanken einbringen und Ratschläge geben. Dabei ist das Beste, was wir für eine andere Person tun können, einfach nur zuzuhören. Nur das ist meistens leichter gesagt als getan.

Wir Menschen sind aber nicht besonders gut darin, anderen zuzuhören. Das beginnt schon bei der Geburt: Wenn wir geboren werden, wissen wir, wie wir schreien, damit wir das bekommen, was wir brauchen. Was wir nicht gleich lernen oder gar von Anfang an können, ist zuzuhören.

Viele Gespräche sind im Grunde nichts anderes als Machtkämpfe. Im Endeffekt scheint sich alles nur darum zu drehen, wer die meiste Aufmerksamkeit erhält: Wie beim Tauziehen zieht der eine an einem Ende der Schnur, während der andere sich mit aller Kraft dagegenstemmt und verhindert, auch nur einen Schritt auf den anderen zuzugehen.

Ein gutes Gespräch aber ist Teamarbeit. Jeder Beteiligte opfert ein wenig für das Wohl der gesamten Gruppe und erhöht so das Wohlempfinden jedes Einzelnen. Ein gutes Gespräch ist wie ein Tanz, bei dem der Rhythmus an erster Stelle steht und jede Person in der Gruppe dazu beiträgt, diesen Rhythmus aufrechtzuerhalten. Eine Person, die nur dem eigenen Rhythmus folgt und sich an den anderen orientiert, ruiniert schnell die gesamte Choreographie. Dasselbe passiert auch während eines Gesprächs: Jede Person setzt einen Schritt, der entweder Aufmerksamkeit erregt oder Aufmerksamkeit entzieht.

Die Qualität einer Interaktion hängt im Wesentlichen davon ab, wie viel Aufmerksamkeit die Beteiligten suchen und wie viel sie bereit sind zu geben. Wir treten miteinander in einen Wettbewerb, wenn wir die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf uns lenken und wir kooperieren, wenn wir bereit und in der Lage sind, die Aufmerksamkeit voll und ganz bei den anderen zu lassen und einfach nur zuzuhören. Konversationsnarzissten machen Letzteres: Sie entziehen dem anderen die Aufmerksamkeit und lenken sie auf sich, um so die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

Der Konversationsnarzisst

Der Soziologe Charles Debber hat den Begriff des Konversationsnarzissten etabliert. Debber definiert Konversationsnarzissten als Personen, die in Gesprächen wiederholt alles tun, um die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. Konversationsnarzissmus ist eine sehr subtile Form der Gesprächsführung, von der wir alle betroffen sind: Es ist das Gefühl es kaum erwarten zu können, anderen die eigene Version einer Geschichte zu erzählen oder zu sagen, welche Erfahrungen man selbst gemacht hat. Dann üben wir uns in Geduld und geben vor, aufmerksam zuzuhören. In Wahrheit liegt aber unsere gesamte Konzentration auf dem, was wir sagen wollen, sobald wir die Möglichkeit dazu bekommen.

Aktiver Konversationsnarzissmus

Die Antwort, die eine Person auf eine Aussage gibt, kann laut Debber zwei verschiedene Formen annehmen: Entweder verschiebt die Antwort die Perspektive des Sprechers oder sie unterstützt das eben Gesagte. Die Unterstützungs-Antwort lässt die Aufmerksamkeit beim Sprecher und Thema. Die Verschiebungs-Antwort bereitet die Bühne für sich selbst vor, indem das Thema gewechselt wird und so die Aufmerksamkeit auf den anderen gelenkt werden kann.

Im Design Thinking arbeiten wir viel mit Gesprächen. Wir bekommen die meisten Informationen über die Zielgruppe, indem wir direkt nachfragen. Sehen wir uns ein typisches Gespräch aus einem solchen Dialog an:

1. Unterstützungs-Antwort

A: Ich bin gerade extrem gestresst.
B: Oh ja? Wieso? Was ist passiert?

2. Verschiebungs-Antwort

A: Ich bin gerade extrem gestresst.
B: Oh ja? Das kenne ich. Mir geht es genauso.

Im ersten Beispiel lenkt B die Aufmerksamkeit mit seiner Unterstützungsantwort auf A. Im zweiten Beispiel versucht A das Gespräch mit der Antwort auf sich selbst zu lenken. Aber Achtung: Selbst wenn Aussagen wie "Das ist interessant", "Wirklich?", "Ich kann das verstehen" vor eine Antwort geschoben werden, ist das aber nicht automatisch ein Zeichen dafür, dass die Person den Fokus auf sich lenken will. Vielmehr hängt es von der dahinterliegenden Absicht ab. Möglicherweise möchte er/sie wirklich nur unterstreichen, was die andere Person gesagt hat, und sie zum Weitersprechen ermutigen, indem er/sie ein wenig von den eigenen Erfahrungen teilt, bevor sich das Gespräch wieder um das Anfangsthema dreht:

A: Ich bin gerade extrem gestresst.
B: Oh ja? Das kenne ich. Mir geht es genauso.
A: Wirklich? Wie gehst du damit um?
B: Das kommt drauf an, was passiert ist. Wie sieht die Situation bei dir aus?

Hier vermittelt B Empathie und Verständnis und lenkt die Aufmerksamkeit wieder zurück auf A. Konversationsnarzissten hingegen bringen sich so lange ein, bis die ganze Aufmerksamkeit auf sie verlagert ist. In etwa:

A: Ich bin gerade extrem gestresst.
B: Oh ja? Das kenne ich. Mir geht es genauso.
A: Wirklich? Wie gehst du damit um?
B: Stell dir vor, ich bin gestern in das Meeting gegangen und wurde sofort gefragt, wie viele Interviews ich geführt habe. Das klang gleich so wie ein Wettbewerb. Ich bin so froh, dass ich schon einige geführt habe, die wirklich coole Erkenntnisse brachten. So habe ich zum Beispiel bei einem Interview erfahren...

Die meisten KonversationsnarzisstInnen achten aber trotz allem auf soziale Richtlinien. Da sie nicht unhöflich sein wollen, mischen sie Unterstützungs- mit den Verschiebungs-Antworten solange ab, bis die Aufmerksamkeit ausschließlich bei ihnen liegt. KonversationsnarzisstInnen sind demnach dann erfolgreich, wenn der Gesprächspartner plötzlich die Unterstützungsantworten liefert und so die Bühne für seinen/ihren Auftritt freigibt.

Passiver Konversationsnarzissmus

Konversationsnarzissmus kann noch subtilere Formen annehmen. So kann der Konversationsnarzisst die Unterstützungsantworten solange zurückhalten bis das passende Thema initiiert wurde. Dann ist es an der Zeit, das Wort zu ergreifen und loszulegen.

In jedem Gespräch gibt es Hintergrundbestätigungen wie „Ja“, „Aha“, „Hmm“, „Sicher“, unterstützende Aussagen, die aktives Zuhören ausdrücken wie „Das ist großartig.“ „Du solltest das unbedingt machen“ und unterstützende Fragen, die zeigen, dass Sie nicht nur zuhören, sondern auch mehr hören möchten. „Warum hast du dich so gefühlt?“, „Wie war seine Antwort, als du das gesagt hast?“ oder „Was wirst du jetzt machen?“. Ein Konversationsnarzisst hält nun Unterstützungsantworten zurück, indem er/sie keine Fragen stellt. Im Normalfall erzählen wir ja nicht gleich jedes Detail einer Geschichte bereits am Anfang. Vielmehr bringen wir ein bisschen etwas ein und warten dann auf weitere Fragen. Damit stellen wir sicher, dass die Person, mit der wir sprechen, auch wirklich an dem Gespräch interessiert ist. Fehlen solche Fragen, beginnen wir zu zweifeln, ob das, was wir sagen, auch wirklich interessant ist. Die Folge ist, dass wir aufhören zu sprechen und so die Aufmerksamkeit auf die andere Person lenken: ein klares 1:0 für den Konversationsnarzisst.

Sie können einen Konversationsnarzissten auch an ihrem offensichtlichen Desinteresse erkennen. Dazu sprechen sie Bestätigungen - also all diese wichtigen „Ja“ und „Hmmm“ - verzögert aus. Gute Gesprächspartner platzieren solche Bestätigungen an den richtigen Stellen. Bei zu langen Pausen zwischen der Erzählung und den Bestätigungen nimmt der Sprecher dieses verzerrte Timing wahr und wird verunsichert. Das führt dazu, dass die Person mit der eigenen Erzählung aufhört und stattdessen die Aufmerksamkeit auf das, was der andere zu sagen hat, richtet.

So werden Sie Meister der Konversationskunst

Es gibt eine Übung, wie Sie herausfinden, ob Sie selbst zum Konversationsnarzissmus neigen: Schreiben Sie eine Liste mit fünf Dingen, die Sie persönlich bei Gesprächen nervt. Das können Dinge sein wie ständige Unterbrechungen, Ja/Nein-Antworten, Wiederholungen der Wörter etc. Mit dieser Liste gehen Sie dann zu einer nahestehenden Person und bitten um Feedback: Was aus dieser Liste machen Sie selbst? (Sagen Sie aber nicht, dass diese Liste die Dinge aufzählt, die Sie persönlich nerven.) Wenn Sie zum Konversationsnarzissmus neigen, werden Sie höchstwahrscheinlich all das tun, das Sie aufgezählt haben und das Sie selbst stört.

Die gute Nachricht ist, dass es gar nicht so schwierig ist, ein kompetenter und charismatischer Konversationspartner zu sein. Sobald jemand mit einem Thema beginnt, liegt Ihre Aufgabe darin, die Details der Geschichte herauszufinden. Stellen Sie Fragen und hören Sie interessiert zu. Sobald dann das Gespräch seinen Lauf genommen hat, können Sie an den richtigen Stellen Ihre persönlichen Erfahrungen einbringen. Denn gute Gespräche sind wie ein Tanz: Es braucht immer zwei Personen: eine, die führt, und eine, die sich führen lässt.

Bei guten Gesprächen können Sie sehr viel lernen. Sie müssen dazu nur neugierig sein und sich zurückhalten. Denken Sie daran, dass Sie nichts aus dem lernen werden, was Sie selbst sagen - denn das alles wissen Sie ja bereits. Sie erfahren nur dann etwas Neues, indem Sie anderen wirklich zuhören.

Wenn Ihnen zum Beispiel jemand etwas erzählt, dass er/sie so richtig ärgert und Sie nicht wissen, was Sie sagen und wie Sie reagieren sollen, liegt das daran, dass Sie nicht wissen, wie der andere sich wirklich fühlt. Diese Unbeholfenheit ist letztlich ein Hinweis darauf, dass es für Sie etwas zum Lernen gibt. Um herauszufinden, was er/sie wirklich durchmacht, müssen Sie aufhören über sich selbst zu reden und stattdessen zuhören und Fragen stellen, um die Details zu erfahren.

Wir alle sprechen am liebsten über uns selbst. Wenn Sie Ihrem Gegenüber die Möglichkeit geben, über sich selbst zu erzählen, tragen Sie dazu bei, dass er/sie sich großartig fühlt. Das Tolle daran ist, dass Sie sich auch großartig fühlen werden, weil Sie dadurch selbst viel lernen und in neue Welten eintauchen. Zuhören ist ein Akt der Liebe - Fragen sind pure Magie.