Setzen Sie Ihre 10.000 Stunden nicht auf eine Sache

Am 09. November 1914 wurde in Wien ein Mädchen geboren, das Jahre später eine gefeierte Schauspielerin in Hollywood werden sollte und das sich aktiv gegen den Nationalsozialismus einsetzte. Am selben Tag zur selben Zeit in derselben Stadt wurde ein Kind geboren, dass ein genialer Erfinder war. Es hat das Frequenzsprungverfahren, das auch heute noch die Grundlage von Bluetooth und für die Verschlüsselung von Funk-Technologien ist, entdeckt. Die große Schauspielerin und der geniale Erfinder hatten nicht nur denselben Geburtstag und Geburtsort, es war auch dieselbe Person: Hedy Lamarr.

In der Familie meines Mannes gibt es viele berufliche Musiker und so weiß ich aus erster Hand, wie schwierig es ist, von Musik alleine leben zu können. Ich nehme an, dass es bei vielen, die es auf die Bühne zieht, sehr ähnlich ist. So scheint es naheliegend, dass es oft einen prosaischen Brotjob braucht, der mehr oder minder ertragen werden muss, um überleben zu können. Allerdings ist diese Schlussfolgerung meiner Erfahrung nach zu kurz gegriffen: Der Neffe meines Mannes ist beispielsweise ein sehr begabter Pianist. Von Kindesbeinen an verschrieb er sich der Musik mit Leib und Seele. Zur Verwunderung vieler begann er - trotz vorhandener finanzieller Unterstützung - neben seiner Ausbildung am Wiener Konservatorium ein Physik-Studium.

Fragt man den jungen Mann, so sieht er das nicht als Widerspruch oder das Physik-Studium gar als notwendiges Übel an: Vielmehr sind es beide Welten, die ihn faszinieren und in die er mit der gleichen Leidenschaft und Neugierde eintaucht. Auch bei Hedy Lamarr gibt es keine Beweise dafür, dass ihr die Karriere als Schauspielerin mehr Freude bereitet hätte, als die der Erfinderin, und auch nicht, dass sie eines davon als kreativer oder wichtiger ansah.

Wenn man sich die momentanen Anforderungen und die langen Arbeitszeiten ansieht, scheint es schier unmöglich, sich mit zwei gegensätzlichen Bereichen ernsthaft auseinandersetzen zu können. Vielmehr wird die sogenannte 10.000-Stunden-Regel als Erfolgsrezept verschrieben, um Spitzenleistung (und damit Anerkennung) zu erlangen. Demnach müssen Sie sich mit all Ihrer Zeit und Energie auf eine Sache alleine fokussieren, wenn Sie erfolgreich sein wollen – so das Patentrezept.

Keine Frage: Der Fokus auf eine einzelne Aktivität ist eine sichere Formel für einen hohen Output. Sie werden eher einen Hasen fangen, wenn Sie sich auf einen konzentrieren, als zwei nachzulaufen, die womöglich in ganz andere Richtungen hoppeln. Aber Fokussierung ist nicht unbedingt die sichere Formel, wenn es um Ihr eigenes Wohlempfinden oder Ihr geistiges Wachstum geht.

Missverstehen Sie mich an dieser Stelle bitte nicht: Ich will kein Loblied auf Multitasking einstimmen. Multitasking ist meiner Erfahrung nach etwas, das nachweislich sowohl die Produktivität als auch die Qualität der Arbeit beeinträchtigt. Und es frustriert in den allermeisten Fällen, weil es zu dem Gefühl führt, dass Sie am Ende des Tages unterm Strich gar nichts wirklich gemacht haben. Mir geht es vielmehr um den Gedanken, unterschiedliche Interessen zu verfolgen, die vielleicht auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben.

Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten werden in der modernen Wirtschaft immer wertvoller. Ich selbst achte bei der Zusammenstellung von Teams darauf, dass die Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen, Alter und Herkunft bestehen. Die Welt ist viel zu komplex geworden, als dass ein einziges Hirn oder viele sehr ähnlich denkende Hirne Probleme gut lösen könnten. Noch dazu kommt, dass Menschen, die unterschiedlichste Interessen und Fähigkeiten miteinander verknüpfen, Studien nach das erfüllendste Arbeitsleben haben.

In den 1970er Jahren glaubten viele Sozialwissenschaftler, dass diese Art der Dichotomie schwierig oder unmöglich sei. Schließlich würde sich die Kreativität, die ja in der „rechten Gehirnhälfte“ sitzt nicht mit den analytischen Fähigkeiten der „linken Gehirnhälfte“ überschneiden. Der modernen Hirnforschung zum Dank wissen wir allerdings, dass die Aktivität auf beiden Seiten Ihres Gehirns unabhängig von Ihrer Persönlichkeit ähnlich ist. So haben Sie vielleicht ein größeres Interesse am Klavierspielen als an physikalischen Experimenten, aber Ihr Gehirn ist nicht auf das eine oder das andere eingestellt. Es gibt also keinen Grund, warum dieselbe Person nicht beides gut erledigen kann.

Ein Problem ist eher, dass eine Person, die zwei Disziplinen verfolgt, oft nicht viel Geld verdienen kann. Eine Doppelkarriere führt meist auf einen schlechteren Verdienstweg. Ich bin allerdings der Überzeugung – und das wird durch Studien unterstützt – dass wir oft überschätzen, wie hoch unser tatsächlicher Geldbedarf wirklich ist, wenn es darum geht ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Vielmehr verwischen wir die Grenzen zwischen Wunsch und Bedürfnis und das führt dann zu einem unermüdlichen Streben nach maximalem Einkommen, das Sie nicht unbedingt glücklicher macht.

Ihr Interesse kann sich auch in einem ernsthaften Studium einer Sache äußern, die ganz unabhängig davon ist, ob es sich dabei um formelle Ausbildung handelt oder nicht. Mein Mann, der ein erfolgreicher Business-Analyst ist, ist seit Kindheit begeistert vom Fliegen. Nun hat er sich den Traum erfüllt und macht den Privatpilotenschein. Er wird wohl nie auch nur einen Cent als kommerzieller Pilot verdienen, aber das macht ihm nichts aus. Er weiß wohl so viel über Wetterveränderungen, Luftrecht oder Luftfahrtbedingungen wie auch ein Linien-Pilot. Die Wahrscheinlichkeit, dass er das Hobby aufgibt, ist ebenso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass er seinen Job aufgibt. Beides bereichert sein Leben.

Abgesehen davon, dass es Spaß macht und Sie glücklich macht, verbessert Sie das Ausüben mehrerer Fähigkeiten vermutlich in jeder einzelnen davon. Sich in mehreren Disziplinen auszukennen, mehr zu erfahren und neue Dimensionen zu erkunden, erschafft einzigartige Erlebnisse.

Sie können wie Lamarr Ihr Leben auf zwei verschiedenen Wegen gleichzeitig gehen und dabei unerwartete Entdeckungen machen. Sie sind vielleicht nicht der nächste große Hollywood-Schauspieler, aber mit Lamarr als Vorbild können Sie auf Ihrer persönlichen Bühne des Lebens Ihre beste – und erfüllendste – Rolle spielen.