In unserer Welt dreht sich alles ums Gewinnen. Als Kinder streiten wir uns um die Aufmerksamkeit der Eltern. Wir wetteifern mit Freunden, wer die bessere Note bekommt, und im Sport geht es darum, wer am Treppchen steht. Später, wenn wir in die Arbeitswelt eintreten, lernen wir, wie wir andere Menschen für uns oder unsere Ideen gewinnen können. Die Managementliteratur ist voll von Anleitungen, wie man Kunden, Aufträge oder Pitches gewinnt. In den meisten Bereichen ist zwar ein Sieg nie nur positiv, ein Scheitern aber immer enttäuschend.
Im Silicon Valley gilt die Maxime „schnell scheitern, um früh zu lernen“. Es gibt Veranstaltungen wie die Fuckup Nights, bei denen Menschen auf der Bühne öffentlich von ihrem Scheitern erzählen. Wenn Sie bei etwas gescheitert sind, bei einem Vorhaben oder einer Idee, dann ist das jedes Mal schmerzhaft. Vor allem, wenn Sie sich besonders viel Mühe gegeben haben - und diese Mühen einfach nicht genug waren.
Über Jahrzehnte hinweg haben wir den Raum, in dem wir uns trauen zu verlieren, immer weiter eingeschränkt. Wir haben eine Umgebung geschaffen, in der wir zwar den Preis von jedem, aber nicht den eigentlichen Wert davon kennen. Dadurch fehlen uns wichtige Zugänge, die wir zum Wachsen benötigen. Mit ein wenig Wissen und Übung können Sie Ihr Scheitern in eine Quelle des Wachstums und sogar des Glücks verwandeln.
Ein beruflicher oder privater Rückschlag, der Sie in Selbstzweifel stürzt, erscheint manches Mal für jemand anderen nicht annähernd so tragisch. Zu Beginn meiner Selbstständigkeit als Unternehmensberaterin machte ich einmal einen Strategiefehler, der zum Verlust eines wichtigen Kunden führte. Ich erzählte einer Freundin davon und klagte darüber, wie sehr ich mich als Versagerin fühlte. Sie hörte zu und meinte „Auf einer Skala von 0 bis 10 liegt dein Problem bei etwa 0,5“. Selbst wenn mein Problem nur bei 0,5 lag, hat es sich dennoch sehr bitter angefühlt – vor allem, weil ich viel Mühe und Energie in diesen Auftrag gesteckt habe.
Wenn es keine einfachen Ausreden mehr gibt, suchen Sie vielleicht nach Erklärungen für Ihr Scheitern, die es einfach nicht gibt. Dieses Vorgehen ist aber eine schlechte Idee: Das Grübeln über einen Fehler hält diesen im Vordergrund und führt dadurch nur zu noch mehr Leid. Emotionales Leid nach einem Scheitern hat uns vielleicht einst dabei geholfen, zu lernen, dasselbe nicht zweimal zu versuchen (den Säbeltiger zu ärgern, ist keine gute Idee). Aber diese Art Kreislauf von negativem Grübeln erhöht Ihre Überlebenschancen nicht – im Gegenteil, es führt vielmehr zu Depressionen und Angststörungen. Denn anstatt Sie vor künftigen Enttäuschungen zu schützen, begehen Sie meistens noch mehr Fehler – oder verpassen zumindest Gelegenheiten zum Erfolg oder Chancen Neues zu entdecken. Wenn Sie zum Beispiel in einer Beziehung verletzt wurden, kann das Grübeln dazu führen, sich mehr auf die Vergangenheit als auf die Zukunft zu konzentrieren, wodurch es immer schwerer wird, hinauszugehen und es noch einmal versuchen.
Scheitern wird aber gerade in der Arbeitswelt eine immer wichtigere Eigenschaft. Es bietet nicht nur die Möglichkeit, Charakter zu zeigen und zu formen, sondern es steht stellvertretend und charakteristisch für unsere Zeit. Arbeit wird immer weniger zu einem Teil der Identität.
Wir müssen Umgebungen und Rituale schaffen, die es uns ermöglichen, uns selbst wieder zu finden, vor allem wenn wir scheitern. Die Herausforderung für uns alle besteht darin, uns daran zu erinnern, dass es im Leben etwas Wertvolleres und Wichtigeres als Gewinnen gibt. Die große Chance, die vor uns liegt, besteht darin, Verlieren als wesentlichen Bestandteil der menschlichen Existenz zu akzeptieren.
Ein paar Tipps, wie Ihnen das gelingen kann:
Erstellen Sie Ihren persönlichen Lebenslauf der Misserfolge
Wenn Sie sich aktiv mit Ihren eigenen Fehlern befassen, können diese weniger weltbewegend erscheinen. Sie können zum Beispiel einen „Lebenslauf der Misserfolge“ schreiben. Das ist eine schriftliche Liste der Dinge, die im Leben nicht geklappt haben. Wenn wir die Dinge aufschreiben und sie so aus dem vagen Reich der Gefühle holen, können wir sie bearbeiten. Wir bekommen dann eine klarere, logischere Sicht – und das hilft, die positive Seite daran zu erkennen.
Hören Sie auf, auf Ziele zu setzen
Einer der Gründe, warum Scheitern sich so niederschmetternd anfühlen kann, liegt darin, dass wir uns auf Ziele und nicht auf Verbesserungen und Lernen konzentrieren (siehe hier). Der Wert, den wir in Arbeit und Leben schaffen, hat viel weniger mit unseren Leistungen, als vielmehr mit unserem Wissen und unserer Erfahrung zu tun - zu denen auch das Wissen gehört, die wir aus dem Scheitern ziehen.
Fügen Sie deswegen Ihrem Lebenslauf über Misserfolge eine Zeile mit den gewonnenen Erkenntnissen hinzu. Beispielsweise könnten Sie neben „Habe die Aufnahme zum Medizinstudium nicht geschafft” schreiben: „Ich habe gelernt, dass ich Blut nicht sehen kann“. Diese Übung wird Ihnen helfen, den Fortschritt bei jedem Rückschlag zu erkennen, und Sie später daran erinnern, dass der Schmerz einer Ablehnung nur vorübergehend, die gewonnenen Erkenntnisse jedoch dauerhaft sind.
Studieren Sie die Fehler anderer
In einem Experiment wurde untersucht, wie Schüler darauf reagierten, wenn sie entweder etwas über die Erfolge und Misserfolge berühmter Wissenschaftler oder nur über deren Erfolge erfuhren. Das Ergebnis war, dass das Studium der Misserfolge die Schüler dazu motivierte, besser mit ihren eigenen Niederlagen umzugehen, und ihnen dabei half, deutlich bessere Noten zu erzielen, als diejenigen, die nur etwas über die Erfolge der Wissenschaftler lernten. Nutzen Sie die Fehler und Misserfolge anderer und überlegen Sie, was Sie daraus lernen können.
Der Schlüssel ist, Sinn und Zweck in ihren Rückschlägen zu finden und dadurch stärker zu werden. So hat Thomas Alva Edison angeblich allein für die Erfindung der Glühbirne um die 9.500 kleine Kohlefäden ausprobiert, bis er denjenigen fand, der die Glühbirne dauerhaft zum Leuchten brachte. Auf die Aussage eines Mitarbeiters, der vom Scheitern sprach, antwortete er “Ich habe nicht versagt. Ich habe nur 10.000 Wege gefunden, die nicht funktionieren”. Wir sollten berufliche Niederlagen oder persönliche Verluste nicht als Hindernisse auf unserem Weg sehen, sondern die Tatsache anerkennen, dass Scheitern die Grundlage unserer gemeinsamen Menschlichkeit ist. Mit jedem Tag wird deutlicher, was wir verlieren, wenn das Gewinnen die einzige Option ist: alles.