Sind Sie gerne im Spital, auch wenn es nur für einen kurzen Besuch ist? Vermutlich nicht. Die wenigsten Menschen fühlen sich in Spitälern wohl. Vielmehr sind sie froh, wenn sie es schnell wieder heil verlassen können. Als ich damals nach meiner Notoperation im Spital lag, bekam ich viel Besuch. Etliche Gespräche liefen in etwa wie folgt ab "Ich weiß, wie du dich fühlst. Als ich im Spital gelegen bin/krank war/dieses oder jenes passiert ist, war es schrecklich. Die ganzen Schmerzen und diese ganze Prozedur." Das Ende eines Gesprächs sah dann oft so aus, dass die Besucher mit einem zufriedenen Lächeln aus der Tür gingen und ich verstört zurückblieb. Ich hatte das Gefühl, kein Recht zu haben zu leiden oder dass ich mich in etwas hineinsteigerte, aber es nichts war, das so viel Aufmerksamkeit verdient hat.
Irgendwann geschah etwas Interessantes. Als wieder einmal jemand ansetzte zu sagen “Ich weiß, wie du dich fühlst“, entlud sich auf einmal all meine aufgestaute Wut. "Nein, du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle! Du kannst es gar nicht wissen! Ich liege hier und nicht du! Ich habe die Schmerzen, nicht du! Es ist meine Zukunft, die sich massiv ändern wird, nicht deine! Du gehst nachher einfach hier raus und lebst dein Leben so weiter wie vorher - ich kann das nicht.“ Nachdem ich diesen Schwall an Worten und Gefühle losgelassen habe, fühlte ich mich nicht schlecht – im Gegenteil, ich fühlte mich zum ersten Mal seit langem erlöst. Es war der Tag, an dem ich mir selbst versprochen habe, nie wieder zu einer Person zu sagen “Ich weiß, wie du dich fühlst” - auch wenn ich glaube es zu wissen. Denn die Wahrheit ist, dass niemand wissen kann, wie sich eine andere Person wirklich fühlt. Wenn Sie das glauben, dann missverstehen Sie Empathie.
Mit Schmerzen, Leid und Trauer umzugehen, ist nicht einfach. Der erste Impuls führt dazu, dass die Menschen Trost spenden wollen. Das Fatale ist, dass es so einfach ist, die falschen Worte zu wählen. Um nicht in diese Falle zu tappen, beginnen die Menschen dann über das zu reden, worüber sie am liebsten sprechen und worüber sie am meisten wissen: über sich selbst. Dahinter verbirgt sich einerseits der Wunsch, die Blutung der klaffenden Wunde schnell zu stoppen. Die verletzte Person soll wissen, dass sie nicht alleine ist und dass es andere Menschen gibt, die bereits etwas Ähnliches durchmachen mussten und es geschafft haben. Andererseits ist dieses Vorgehen auch eine hervorragende Taktik, das Gespräch so zu entern und den Fokus auf sich selbst zu richten.
Wenn Menschen mit Trauer und Verletzungen konfrontiert werden, versuchen sie als erstes dem bei sich selbst gefühlte Unwohlsein zu entkommen. Denn niemand fühlt sich gerne unwohl. Deswegen ist es auch sinnvoll, so schnell wie möglich zu einem Thema zu wechseln, bei dem sie sich auch ganz sicher wieder gut fühlen werden. Eine Studie aus Harvard wies nach, dass das Sprechen über sich selbst dieselben Vergnügungszentren in Ihrem Gehirn aktiviert wie Kokain und Sex. Das bedeutet, dass wenn Sie aus einem Gespräch hinausgehen, indem es nur über Ihre Person gegangen ist, fühlen Sie sich automatisch fantastisch.
Das ist der eigentliche Grund, warum Menschen so häufig auf Erzählungen mit ihren eigenen Erfahrungen reagieren. Wenn uns jemand erzählt, wie er oder sie einen Verlust erlitten hat, erzählen wir von den eigenen Verlust-Erfahrungen. Wenn uns jemand von einem Erlebnis aus der Arbeit erzählt, springen wir ein und erzählen von unserem Erlebnis mit einem Arbeitskollegen. Statt der betroffenen Person zuzuhören, zwingen wir sie uns zuzuhören. Es ist ein Tauziehen um die Aufmerksamkeit mit dem Versuch, den Scheinwerfer von der erzählenden Person auf uns selbst umzuschwenken, um uns so schnell wieder wohl zu fühlen. Und auch wenn dieser Trick funktioniert, so kann trotzdem nie jemand wissen, wie sich eine individuelle Erfahrung tatsächlich anfühlt und welche Gefühle diejenige Person wirklich durchlebt.
Wie wir uns fühlen und wie es uns geht, ist immer subjektiv und kann auch von niemanden anderen als der Person selbst bewertet werden. Dazu gibt es ein interessantes Experiment der Universität Genf. Die Forscher stellten mehr als 3.000 Erwachsenen die Frage: “Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie hören würden, wie zwei Freunde schlecht über Sie sprechen?” Die Forscher zählten am Ende nicht weniger als 14 verschiedene Arten emotionaler Reaktionen auf diese eine Frage. Von dem Gefühl der Wut über Enttäuschung und Verlegenheit bishin dass sich einige schuldig, andere wiederum einsam fühlten, war so gut wie jede Reaktion dabei. Wie wir auf etwas reagieren, ist also abhängig von unseren vorherigen Erfahrungen und unserer individuellen Perspektive auf die Welt.
Nun hat es aber die Natur so eingerichtet, dass alle Informationen, die der Mensch bekommt, sofort in der Großhirnrinde verarbeitet werden. Dort wird nach zugehörigen und relevanten Erfahrungen gesucht. Auf diese Weise werden die neuen Informationen in einen vorhandenen Kontext gegeben. Das hilft dem Gehirn das Gehörte und Gesehene besser zu verstehen. Doch anstatt so die Wahrnehmungen eines anderen Menschen besser nachzuvollziehen, verzerren die eigenen Erfahrungen die Wahrnehmung und Bedeutung der Erlebnisse jenes anderen Person.
Damit aber noch nicht genug. Dazu kommt, dass je wohler Sie sich fühlen, desto schwieriger wird es, sich in das Leiden einer anderen Person hineinzuversetzen. Das wiederum hat eine Studie des Max-Planck-Instituts nachgewiesen. Wenn wir uns wohl fühlen, verzerrt unser Ego die eigene Wahrnehmung und wir schätzen automatisch die Erfahrungen anderer falsch ein. Wir ziehen als Referenzwerte unsere eigenen Erfahrungen heran, um zu bestimmen, wie ein anderer sich fühlt. Die negativen Erfahrungen werden dann als weniger schwerwiegend wahrgenommen, als sie tatsächlich sind.
Zugegeben: Es ist nicht leicht dieses Muster zu durchbrechen und nicht mit "Ich weiß, wie du dich fühlst" zu antworten, wenn wir Trauer, Schmerz oder Leid wahrnehmen und uns wieder gut fühlen wollen. Ich ertappe mich selbst immer wieder dabei diesem Impuls nachgeben zu wollen. Aber mit folgenden Trick wird es einfacher: Stellen Sie Fragen. Ermutigen Sie die andere Person zu erzählen. Hören Sie mehr zu als Sie selbst sprechen. Die meisten Menschen wollen keinen Rat oder Ihre Erfahrung hören. Sie wollen nur, dass ihnen einfach jemand zuhört und sie als das sieht, was sie sind: Einzigartige Individuen.