Auch Introvertierte können sich im Home Office einsam fühlen

Als Introvertierte dachte ich, dass ich eigentlich immun gegen das Gefühl der Einsamkeit sein müsste. Seitdem ich selbstständige Unternehmensberaterin bin, arbeite ich die meiste Zeit remote, nicht erst seit dem ersten Lockdown. In Wahrheit ist das auch der Grund, warum ich mich damals für die Selbstständigkeit entschieden habe: Zwar führe ich meine Beobachtungen vor Ort in den Unternehmen durch, aber danach ziehe ich mich zurück, um zu reflektieren und meine Gedanken dazu niederzuschreiben. Ich bereite auch all meine Vorträge und Moderationen nach einer Besprechung alleine Zuhause und zu der für mich passenden Zeit vor. Ich pendle auch nicht täglich irgendwohin. Das alles sind Vorteile, die ich sehr genieße. Für mich war gerade der Beginn der Pandemie eigentlich keine große Sache. Im Gegenteil, ich habe es als angenehm empfunden, nicht mehr so viel reisen zu müssen und mich mehr meinen Erkenntnissen aus den Beobachtungen und Studien widmen zu können.

Aber mit der Zeit passierte etwas Seltsames. Ich fühlte mich plötzlich alleine. Das verwirrte mich, weil mir dieses Gefühl neu war. Zeit meines Lebens habe ich lieber Einzelgespräche geführt als in Gruppen laut mitzudiskutieren. Ich ziehe Spaziergänge zu zweit sofort jeder Party vor. Meinen Geburtstag verheimliche ich und verbringe ihn am liebsten abgeschieden bei einer Wanderung mit meinem Mann. Wenn mein Telefon unerwartet klingelt und mich aus einer Tätigkeit reißt, kann mich das in eine kleine Krise führen - ich brauche eine gewisse Vorlaufzeit.

Aufgrund vieler Gespräche mit anderen Introvertierten und mit all diesen Gedanken und Erfahrungen im Hinterkopf erwartete ich, dass der Lockdown einen Eingang zum Himmel der Introvertierten eröffnete. Als es soweit war, fühlte es sich aber irgendwie so gar nicht danach an. Vielmehr wurde mir schmerzhaft bewusst, wie sehr mir die zufälligen Begegnungen, das Lachen in Workshops, das Abpassen der Menschen nach einem Vortrag fehlten. Kurz: Ich vermisste die Menschen. So unerwartet mich diese Erkenntnis traf, so sehr brachte sie mich aus meinem Gleichgewicht.

Introversion und Extraversion sind keine festen Persönlichkeitstypen, sondern es sind wichtige Stücke eines Persönlichkeitspuzzles. Nur ganz wenige Menschen sind wirklich nur intro- oder extravertiert. Die meisten bewegen sich in einem Spektrum zwischen diesen Typen. Den Unterschied, ob Sie eher intro- oder extravertiert sind, sehen Wissenschaftler u.a. darin, wie Ihr Gehirn auf Dopamin reagiert. Der Neurotransmitter Dopamin reguliert unser Lust- und Belohnungssystem und ermöglicht uns, Belohnungen als solche zu erkennen und auf diese zu reagieren. Dopamin ist ein wesentlicher Teil des Leitsystems unserer Emotionen.

Für ein Experiment wurden die Teilnehmenden gebeten, täglich 15 Minuten alleine zu verbringen und anschließend Fragebögen auszufüllen, wie sie diese Erfahrung empfunden haben. Es zeigte sich, dass Introvertierte die Einsamkeit nicht mehr oder weniger genossen als Extravertierte, aber sie konnten besser mit dem Gefühl der Einsamkeit umgehen und empfanden dabei weniger negative Gedanken. Die Wissenschaftler erklärten diese Beobachtung damit, dass das Hirn vor allem in sozialen Situationen stimuliert wird und soziale Interaktion als Jackpot betrachtet. Das Lustzentrum funktioniert zwar bei einem introvertierten genauso wie bei einem extravertierten Gehirn - es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied dabei: Das Dopamin-Belohnungszentrum eines Introvertierten ist viel aktiver. Wenn Dopamin das introvertierte Gehirn erreicht, fühlt die Person zwar auch ein erregendes Gefühl, aber es überwältigt ihn oder sie viel schneller. Deswegen kosten soziale Interaktionen introvertierten Personen wesentlich mehr Energie.

Introvertiert zu sein hat also gar nichts damit zu tun, ob Sie gerne alleine sind oder nicht. Vielmehr wird der Wunsch nach Einsamkeit von einem ganz anderen Merkmal initiiert: Unabhängigkeit. Viele introvertierte Personen haben eine starke „dispositionelle Autonomie“. Das bedeutet, dass Menschen mit einer hohen dispositionellen Ausprägung versuchen, ihr Verhalten, ihre Werte und ihre Interessen miteinander in Einklang zu bringen und nicht auf Druck von außen reagieren. Je weniger nun Menschen mit einer hohen dispositionellen Ausprägung mit anderen zusammen sind, desto weniger müssen sie sich an den Wünschen und dem Verhalten anderen orientieren bzw. anpassen und desto mehr können sie ihre Unabhängigkeit ausleben.

Wenn ich mich einsam fühle, schreibe ich zum Beispiel Mails an Personen, die mir wichtig sind und mit denen ich mich gerne austausche. Oder ich gehe hinaus, auf einen kurzen Spaziergang. Auf diese Weise bekomme ich einen kurzen, sozialen Austausch, aber in einer Dosis, die mir gut tut und die mich nicht überfordert.

Zurzeit sind alle Menschen auf irgendeine Weise isoliert. Wenn Sie extravertiert sind, werden Sie vielleicht lieber aktiv eine virtuelle Zusammenarbeit mit anderen anstreben. Oder Sie machen öfters bei Happy-Lunch-Meetings und virtuellen Kaffeetreffen mit. Introvertiertere sehnen sich ebenfalls nach sozialen Verbindungen, aber eben in einem anderen Maß.

In diesen unsicheren Zeiten – inmitten all dessen, was gerade um uns herum passiert — wird erst richtig sichtbar, wie sehr wir Menschen einander brauchen. Niemand fühlt sich gerne alleine. Es braucht auch keine herkulischen Anstrengungen, um dem Gefühl der Einsamkeit zu entfliehen. Im Gegenteil, Einsamkeit kann sogar relativ einfach bekämpft werden. Schon kurze Begegnungen helfen, dass wir uns gesehen fühlen. Gerade deswegen sollten wir emotional näher zueinander rücken, uns als einzigartige Wesen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Empfindungen akzeptieren und Brücken, die uns alle verbinden, bauen. fühlen. Deswegen sollten wir gerade jetzt emotional näher rücken, uns besser als einzigartige Wesen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Empfindungen kennenlernen und so Brücken bauen.