Der Preis des Festhaltens

Manchmal kommt die Erkenntnis plötzlich, oft aber schleicht sie sich in den Alltag ein wie ein leises Murmeln im Hintergrund. Ich stand neulich in meinem Arbeitszimmer und blickte auf die Regale mit Büchern, die ich seit Jahren nicht mehr angerührt hatte, und auf die alten Notizen und Ordner, von denen ich mich längst trennen wollte. Etwas an diesen Dingen hielt mich fest, und ich merkte: Ich war dabei, ein Universum zu pflegen, das ich kaum noch besuchte.

Das ist der Kern des Endowment-Effekts – einem psychologischen Phänomen, das uns suggeriert, dass das, was uns gehört, mehr wert ist. Ein Mechanismus, der weit über bloße Besitztümer hinausgeht. Tatsächlich bindet uns dieser Effekt an Gewohnheiten, an Meinungen und sogar an alte Versionen von uns selbst. Es fühlt sich so vertraut an, dass es fast zu einem Teil unseres Selbst wird.

Studien zeigen, dass wir Dinge, die uns gehören, überbewerten, selbst wenn ihr objektiver Wert längst verblasst ist: So waren Menschen, die eine einfache Tasse geschenkt bekommen hatten, nicht bereit, diese zum Marktpreis zu verkaufen, sondern forderten den doppelten Betrag, weil sie sie „besitzen“. Dieselbe Logik – Verlust fürchten wir mehr als den Gewinn eines neuen Objekts – lässt uns auch an alten Gewohnheiten festhalten, die uns objektiv längst nicht mehr guttun. Und manchmal bemerken wir erst, wie sehr wir an diesen Dingen hängen, wenn wir versuchen, sie loszulassen.

Im Alltag macht sich das in kleinen und großen Momenten bemerkbar: beim Zögern, eine abgenutzte Jacke auszusortieren, bei der Routine, immer dieselbe Spaziergehroute zu gehen, oder in der Überzeugung, dass unsere Meinung zu einem bestimmten Thema „die richtige“ ist. Der Endowment-Effekt sagt uns: „Es ist deins, also ist es wertvoll.“ Doch was passiert, wenn wir erkennen, dass wir mehr festhalten als loslassen?

Interessant ist, dass wir oft erst dann die Trägheit des Festhaltens spüren, wenn wir bewusst versuchen, loszulassen. Denken Sie an eine Meinung oder eine Gewohnheit, die Sie über Jahre hinweg gepflegt haben, an die emotionale Bindung an alte Rollen oder den sicheren Komfort eines stabilen Arbeitsplatzes. In diesen Momenten zeigt sich der Endowment-Effekt in seiner subtilsten Form. Ich selbst ertappte mich bei dem Gedanken, dass ein Verlust dieser Dinge gleichbedeutend mit einem Verlust meiner Identität wäre. Doch diese Bindung ist selten objektiv, sie ist ein Trick unseres Geistes, uns Stabilität zu geben.

Der Ausweg beginnt oft mit der Bereitschaft, in Frage zu stellen, was uns so selbstverständlich erscheint. Hier ein paar Schritte, die mir persönlich geholfen haben, dem Endowment-Effekt auf die Schliche zu kommen:

  1. Der Fremde-Blick-Test: Fragen Sie sich: Würde ich dieses Objekt, diese Gewohnheit oder diese Idee genauso schätzen, wenn es nicht mir gehörte? Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Fremder, der Ihre Wohnung oder Ihren Kalender durchschaut. Was wirkt wertvoll und was überflüssig? Durch diese Übung erkennen Sie, wie stark der Endowment-Effekt Ihre Urteile verzerrt. Das Erstaunliche: Oft entdecken wir, dass der emotionale Wert, den wir Dingen zuschreiben, eher eine Gewohnheit als eine echte Überzeugung ist.

  2. Das monatliche Befreiungsritual: Führen Sie ein einfaches Experiment durch: Jeden Monat verabschieden Sie sich von einer Sache oder Routine, an der Sie bisher festgehalten haben – sei es das alte Buch, das Sie nie lesen, oder die Gewohnheit, ständig erreichbar zu sein. Ich nenne das mein „Befreiungsritual“. Der Clou? Fast immer empfinden wir danach nicht Verlust, sondern Erleichterung. Das Loslassen zeigt uns, dass wir oft mehr an die Idee des Besitzens gebunden sind als an den tatsächlichen Nutzen.

  3. Der Unnötigkeits-Detektor: Machen Sie eine Liste von Dingen und Routinen, die Sie „besitzen“ – physisch oder mental. Fragen Sie sich ehrlich: Was davon dient wirklich meinem Wohlbefinden, und was halte ich aus Bequemlichkeit oder Angst fest? Der Endowment-Effekt hält uns oft in einem Netz aus vermeintlicher Sicherheit gefangen. Doch sobald wir beginnen, das Unnötige bewusst zu identifizieren und abzulegen, spüren wir eine neue Leichtigkeit, die Raum schafft für das, was wirklich zählt.

Im Loslassen liegt ein tieferer Sinn, als uns vielleicht bewusst ist. Denn der Endowment-Effekt kann uns auch ermutigen, eine neue Wertschätzung für den gegenwärtigen Moment zu entwickeln. Indem wir unsere Bindungen reduzieren, schaffen wir Raum für das, was wirklich Bedeutung hat – sei es ein aktuelles Ziel oder ein bislang übersehenes Potenzial. Das Neue bleibt uns verborgen, solange wir das Alte nicht loslassen.

Seit ich begonnen habe, mich bewusst mit dem Endowment-Effekt auseinanderzusetzen, ist das Loslassen für mich kein Verlust mehr, sondern ein Weg, meine Umgebung – und mich selbst – auf neue Weise zu entdecken. Der Endowment-Effekt ist also mehr als ein Mechanismus, der uns bindet: Er kann uns auch lehren, woran wir wirklich festhalten möchten – und was wir mit offenem Herzen verabschieden können.

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