Wie man nichts tut – und warum das wichtig ist

In einem meiner letzten Coachings begleitete ich einen CEO, der nach vielen Jahren beschloss, seinen Job zu kündigen. Ich fragte ihn, was seine Pläne für danach wären. Seine Antwort überraschte mich: Er wolle wegziehen und dann nichts tun. Abgesehen von der Tatsache, dass dafür einiges an finanziellen Mitteln zur Verfügung stehen muss, glaube ich, dass es für viele harte Arbeit ist, nichts zu tun.

Wenn ich ehrlich bin, macht mich der Gedanke an das Nichtstun nervös. Ich arbeite viele Stunden weit über das normale Maß hinaus, auch am Wochenende. Jedes Mal, wenn ich mir vornehme, ein paar Tage nichts zu tun, werde ich spätestens nach 10 Minuten nervös. Ich bin vollkommen inkompetent in dieser Beziehung: Schon 5 Minuten belangloses Geplauder macht mich verrückt, die Vorstellung von Urlaub am Strand ist für mich eine Form des Folterns, und im Kino bekomme ich nach der Werbeeinblendung sofort das Restless-legs-Syndrom.

So schwierig es auch wirken mag, müssen wir Streber und Workaholics damit aufhören. Denn es ist in Wahrheit kontraproduktiv ständig zu arbeiten. Wenn wir trotz Erschöpfungszeichen etwas zu Ende bringen, wird es im Normalfall nicht gut und im schlimmsten Fall passieren Fehler, die zu noch mehr Arbeit führen. Je mehr wir arbeiten, wenn Geist und Körper eigentlich Pause bräuchten, desto weniger effizient und desto erschöpfter sind wir. Denken Sie zum Beispiel daran, wie Sie dieselbe Zeile zum fünften Mal lesen und den Inhalt immer noch nicht erfassen können, wenn Sie müde oder erschöpft sind. Wenn Sie ebenso wie ich zu dieser Kategorie gehören, sollte Nichtstun ganz oben auf Ihrer To-Do-Liste stehen.

Aristoteles definierte Arbeit als nützliche Tätigkeit und Freizeit als Selbstzweck. Erholung ist ihm zufolge etwas, das wir tun, um uns danach wieder der Arbeit widmen zu können. Im Gegensatz dazu sah John Maynard Keynes, Urvater der Ökonomie, harte Arbeit nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu etwas Schönerem: Frieden und Entspannung, frei von weltlichen Sorgen. Er meinte, dass Freizeit von selbst kommt, ohne Übung, Anstrengung oder Erfahrung. Allerdings fügte er dem noch eine Fußnote hinzu, als er sagte, dass es „kein Land und kein Volk gibt, das dem Zeitalter der Muße und des Überflusses ohne Angst entgegensehen kann. Denn wir wurden zu lange dazu erzogen, uns anzustrengen und nicht zu genießen.“

Selbst als sich im Jahr 2020 vielen von uns die einmalige Gelegenheit bot, die Zeit unserer Arbeits- oder Pendelstunden zu verringern, haben die wenigsten diese Chance genutzt. Tatsächlich stieg die durchschnittliche Arbeitszeit in den ersten Monaten der Pandemie um 48,5 Minuten. Dadurch, dass das Zuhause zum Büro wurde, verschwammen die Grenzen zwischen Job und Leben vollends und es gab kein Entrinnen vor der Arbeit mehr. Auch wenn mehr Freizeit direkt vor uns liegt, fühlt es sich für viele dennoch seltsam unzugänglich an.

Ein Grund für diesen inneren Widerstand könnte darin liegen, dass uns von klein auf beigebracht wird, dass Zeit Geld ist und wir unsere Zeit entsprechend gut nutzen sollten. Selbst wenn wir Freizeit machen, fühlt es sich oft an, als wäre der Preis dafür, auf Lohn zu verzichten.

Wenn Sie nicht zu sehr damit beschäftigt sind, sich schuldig zu fühlen, kann es sein, dass Sie sich in der Freizeit geradezu langweilen. Die Chemie unseres Gehirns ist auf ständige Unterhaltung ausgelegt, daher ist Müßiggang manches Mal sehr unangenehm. In einer Studie wurden Probanden bis zu 15 Minuten lang allein in einem Raum gelassen. Das Fazit war, dass die Teilnehmer fast jeder verfügbaren Aktivität nachgingen, einschließlich der Verabreichung schmerzhafter Elektroschocks an sich selbst, um ja nicht mit ihren Gedanken alleine zu sein.

Dabei ist es gut – sogar unglaublich wichtig – für uns und unser Wohlempfinden zu lernen, nichts zu tun. Wenn wir bei unstrukturierten und anspruchslosen Aufgaben dem Geist freien Lauf lassen, sind wir nachweislich kreativer und bringen viel originellere Ideen hervor. So hat Newton angeblich das Prinzip der Schwerkraft erkannt, als er einen Apfel beim Fallen beobachtete. Descartes erfand das Koordinatensystem, als er im Bett einer Fliege zusah und Einstein liebte es, sich in Tagträumen zu verstricken.

Im Grunde besteht der Trick darin, weder zum Workaholic noch zum Faulenzer zu mutieren, sondern ein gesundes Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit zu finden, bei dem der jeweils andere nicht verdrängt wird. Beides sollte auf Ihrer To-Do-Liste stehen und zielgerichtet an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten durchgeführt werden.

Wie können Sie das Nichtstun in Ihr Leben einführen?

1. Nehmen Sie Nichtstun ernst

Bevor Sie überhaupt damit beginnen, müssen Sie Nichtstun eine höhere Priorität einräumen. Die Welt ist nicht sehr großzügig mit Pausen. Es gibt immer etwas zu tun oder etwas besser zu machen. Das bedeutet, dass Sie in Ihrem Tagesablauf und in Ihrem Leben Zeit fürs Nichtstun bewusst einen Slot reservieren müssen.

2. Erstellen Sie einen Plan, in dem Arbeit und Nichtstun abwechseln

Wir alle arbeiten auf unterschiedliche Weise, abhängig von unserem Beruf, den Anforderungen unserer Arbeit und davon, ob wir introvertiert oder extrovertiert, Morgenmenschen oder Nachtschwärmer sind. Aber es gibt etwas, das uns allen guttut: Planen Sie Ihre Arbeit zunächst in Blöcken von 90–120 Minuten, gefolgt von Ruhezeiten, die ca. 20–30 Minuten dauern. Den meisten Menschen fällt es schwer, sich länger zu konzentrieren, auch wenn wir vielleicht versuchen, es uns einzureden (auch Ihre Fähigkeit, Ihre Produktivität genau einzuschätzen, nimmt mit zunehmender Müdigkeit ab).

Planen Sie Ihre Blöcke mit Arbeit so, dass Sie Ihre wichtigsten Aufgaben in Zeiten höchster Energie und Konzentration erledigen. Für die meisten Menschen bedeutet das, dass Sie morgens als erstes die wichtigsten Arbeiten erledigen und Besprechungen und E-Mails beantworten auf den Nachmittag verschieben. Machen Sie aber das, was für Sie persönlich am besten funktioniert: Wenn Sie am Nachmittag am energiegeladensten sind, dann planen Sie Ihre produktiven Aufgaben um diese Zeit herum.

3. Beginnen Sie mit kleinen Schritten

Nichtstun ist tatsächlich eine Gewohnheit, die wir erst erlernen müssen. Die meisten von uns haben seit Kindheitstagen gehört, dass Müßiggang etwas ist, das man vermeiden sollte. Gewohnheiten erfordern bewusstes Üben, damit sie sich festigen können. Beginnen Sie mit ein paar Minuten pro Tag im eigenen Büro. Verbannen Sie in dieser Zeit jegliche Technologie. Sobald sich die ersten Minuten einfach und vor allem natürlich anfühlen, erhöhen Sie die Zeit um weitere fünf Minuten – bis Sie jeden Tag bis zu 30 Minuten so verbringen können.

4. Lassen Sie alle Arbeit in der Arbeit

Sobald Sie die Kunst der täglichen Freizeitbeschäftigung beherrschen, können Sie dieses Prinzip etwas reizen, indem Sie einen Urlaub machen, bei dem Sie praktisch grenzenloses Nichtstun genießen können. Keine Sorge, ich schlage Ihnen jetzt nicht vor, dass Sie den ganzen Tag eine fremde Wand anstarren sollen. Aber Sie sollten die Möglichkeit, in Genuss der Erfrischung zu kommen, die nur echte Freizeit bieten kann, nutzen und dem Drang widerstehen, Ihren Urlaub in eine Art “Arbeit in neuer Umgebung” zu verwandeln. Wählen Sie in diesem Urlaub Aktivitäten, die Ihre Aufmerksamkeit sanft einnehmen und Ihnen gleichzeitig viel Spielraum für Tagträumerei lassen. Das gelingt am besten, indem Sie in der Natur spazieren gehen oder gar eine Zeit lang tatsächlich die Wellen beobachten.

Zu lernen, das Nichtstun zu akzeptieren, ist eine Reise, kein Ziel. Zunächst ist es schwierig, den Geist zum Schweigen zu bringen und dem Drang zu widerstehen, jeden einzelnen Moment des Tages mit Aktivität zu füllen. Es ist wichtig, während dieses Prozesses liebevoll und geduldig mit sich selbst zu sein. Akzeptieren Sie, dass es in Ordnung ist, Momente der Stille zu haben, und mit der Zeit werden Sie feststellen, dass diese Momente zu einem geschätzten Teil Ihrer Routine werden.

Wenn sich Schuldgefühle einschleichen oder Sie befürchten, dass Sie wertvolle Zeit verschwenden, denken Sie daran, dass das Leben endlich ist. Wir alle verfügen außerdem nur über einen begrenzten Pool an physischen und psychischen Ressourcen. Wenn dieser erschöpft ist, fühlen wir uns müde, ausgelaugt und gestresst. Wenn wir uns auf das Wichtige konzentrieren und uns bewusst die Zeit nehmen, um uns auszuruhen, können wir das Leben aufbauen, das wir uns wünschen, in der Zeit, die wir haben.