Bereits vor der Coronakrise wurde diskutiert, wie viel Wahrheit und wie viel Fehlinformationen in unserer Welt kursieren. Die sozialen Medien bieten Trollen, Populisten und Verschwörungstheoretikern die perfekte Plattform zur Verbreitung ihrer Messages, erreichen sie doch so weltweit geschätzt 1,7 Milliarden Menschen. Die Tragweite von ihren Aussagen wäre nun nicht so schlimm, würde nicht der derzeitige Umgang mit Fehlern in unserer Gesellschaft dazu führen, dass wir lieber einem anonymen Twitter-Account Glauben schenken, als einem anerkannten Gesundheitsinstitut. Wirkliche Experten zu finden war schon immer schwierig. In der Ära eines Coronavirus ist es aber nahezu zu einer unlösbaren Aufgabe geworden.
Im Rahmen meiner Arbeit gehe ich mit einem Team, das aus Personen aus dem jeweiligen Unternehmen besteht, direkt auf die Straße, um dort Menschen nach deren Meinung zu fragen und ihr Verhalten in deren natürlichen Umfeld zu beobachten. Dabei fragen wir sie nach ihren Erfahrungen, die sie mit diesem Unternehmen machen, dessen Produkte, Services oder Prozessen. Wir wollen herausfinden, welche Informationen und Einstellungen sie dazu haben und auch woher sie ihre Informationen beziehen, wem sie Glauben schenken und warum. Viele der Unternehmen, die ich begleite, verstehen nicht, wie es sein kann, dass ihr Rat von eben diesen Personen angezweifelt wird, wären sie doch die Experten, die im Sinne ihres Kunden handeln würden. Wenn wir dann rausgehen, um direkt nachzufragen, bestätigt sich in 9 von 10 Fällen, dass Menschen dazu neigen lieber die Meinungen und Überzeugungen von Fremden aus Foren, Freunden oder Familie zu übernehmen - auch wenn diese kein Insider-Wissen haben geschweige denn Experten auf dem jeweiligen Gebiet sind. Sie glauben diesen Personen mehr, weil sie überzeugt davon sind, dass deren Aussagen nicht auf einem wirtschaftlichen Interesse beruhen. Je mehr eine Person direkt mit einem Unternehmen verbunden ist, desto eher werden seine Aussagen in Zweifel gezogen und ihr wird ein egozentrisches Interesse unterstellt.
Nun kommt in der jetzigen Virus-Situation noch dazu, dass eine Pandemie in den meisten Fällen ein neuartiger Zustand ist. Die entsprechenden Daten, Fakten und Informationen zu erhalten und darauf korrekt zu reagieren ist fast nicht möglich - auch nicht für die Wissenschaft. Der Umkehrschluss sollte nun nicht sein, dass wir die Meinungen von Experten ignorieren und nur Twitter-Aussagen Glauben schenken sollten. Aber während ein Pseudo-Experte einige zweifelhafte Aussagen aufstellt, kann ein anderer mit seinen Behauptungen dabei helfen, dass Fehler aufgedeckt werden, die ansonsten vielleicht unentdeckt geblieben wären.
Offiziell anerkannte Experten sind unter den momentanen Bedingungen nach wie vor vertrauenswürdiger, da ihre Thesen mit gesundem Menschenverstand hinterfragt werden können. So ist beispielsweise der Ansatz, den die meisten Experten derzeit fordern, kein komplizierter oder hochwissenschaftlicher Ansatz, sondern basiert auf dem Krankheitsmanagement, das schon bei den Florentinern im 15. Jahrhundert funktioniert hat: Hygienische Maßnahmen fördern, Kontakt zu anderen Personen reduzieren, Kranke unter Quarantäne stellen - und auf das Beste hoffen.
Je spezifischer und detaillierter die Aussagen von Experten werden, desto undurchsichtiger und chaotischer wird allerdings die gesamte Situation. Für eine Pandemie gibt es einfach keine einheitliche Blaupause, die wir gleichermaßen alle anwenden können und die uns sagt, wie wir uns korrekt zu verhalten haben. Jeder einzelne Schritt ist ein eigenes Experiment in sich. Es gilt zu handeln, zu reagieren und zu lernen. Auch Politiker müssen sich diesem Verhalten anpassen, mit Fachexperten an ihre Seite. Das Wichtigste aber ist, dass sie unbedingt aufhören müssen so zu tun, als hätten sie die eine, richtige Wahrheit für sich gepachtet.
Wir alle sind in dieser Zeit gefordert: Wir müssen täglich unzählige wichtige Entscheidungen für unser Leben und auch für das Leben anderer treffen. Wir müssen entscheiden, was wir selbst für unsere eigene Gesundheit und die der anderen tun können, ob und wann wir zur Arbeit gehen sollen. All diese Entscheidungen müssen in einem Kontext getroffen werden, in dem die einzig wirklich relevante Stichprobengröße wir selbst sind.
Es gibt keine Ratschläge, die als medizinisch sicher angesehen werden können. Wir haben noch nicht genügend Informationen, um zu wissen, was wirklich als richtige Maßnahme gilt. Wir müssen jede Frage, jede neue Erkenntnis jeweils experimentell beantworten. Diese neue Realität erfordert von allen ein ungewohntes Vorgehen: Einerseits müssen wir versuchen, Risiken vorsichtig zu kommunizieren, andererseits müssen wir diese Risiken bewusst eingehen und experimentieren. Als wäre das noch nicht genug müssen wir zeitgleich den Schaden eindämmen, der durch falsche Informationen verursacht wird.
Das ist auch bei meiner Arbeit so: Jede Begegnung zeigt andere, teilweise unerwartete und oft unbekannte Wege auf. Wir müssen immer zuerst ein paar Schritte auf diesen unbekannten Wegen gehen, um danach erst entscheiden zu können, ob es sich lohnt, einen davon wirklich zu verfolgen oder eben nicht.
Als Gesellschaft ähnelt unser Kampf mit diesem Coronavirus einem Kampf gegen einen Nebel, in dem das Dunkle, das Unbekannte lauert. Der Verlauf ist noch unbekannt und wir wissen nicht genau, was passieren wird. Bevor diese Pandemie sich verbreitet hat, schien die Welt der Wissenschaft als ein Leuchtturm, der uns sicher durch die Welt navigiert und der die nächsten Gefahren vorab anleuchtet, sodass wir nicht mit voller Wucht gegen einen Felsen krachen. Plötzlich flackert dieses Licht und fällt immer wieder aus, worauf wie aus dem Nichts neue Gefahren und neue Wege auftauchen.
Es kommt vielleicht immer noch Licht von diesem Leuchtturm. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass dieses Licht immer nur einen Teil der Strecke ausleuchtet. Wenn Sie also sicher durch diese Zeit kommen wollen, müssen Sie bereit sein, durch das Dunkle zu tappen, auch mal zu stolpern, wieder aufzustehen und mit neuem Mut weiterzugehen.