Meine Arbeit in Unternehmen besteht im Grunde darin, die eigentlichen Probleme hinter Dingen wie Fluktuation, Umsatzeinbruch, fehlender Motivation oder Mangel an Innovationsfähigkeit aufzudecken, um dann funktionierende Lösungen zu finden. In der Praxis bedeutet das, dass ich zunächst eine Umgebung entwickeln muss, in der Menschen kreativ und innovativ agieren zu können. Eine Umgebung, in der sich Menschen trauen, Risiken einzugehen, Schwächen zu zeigen und keine Angst vor Fehlern haben. In der Menschen also menschlich sein dürfen. Ein Thema, auf das ich dabei immer wieder stoße, ist der Umgang mit psychischen Problemen. Psychische Krankheit ist ein tiefgreifendes Stigma, das mit Schamgefühl besetzt ist.
Der Weltgesundheitsorganisation zufolge ist psychisch gesund derjenige, der mit den Belastungen des Lebens umzugehen weiß. Es ist derjenige, der seine Fähigkeiten erkennt und produktiv einsetzen kann. Psychische Gesundheit hilft bei der Entscheidungsfindung, beim Aufbau von Beziehungen und unterstützt uns dabei, die Welt, in der wir leben, zu gestalten. Psychische Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht. Es umfasst unser emotionales, psychologisches und soziales Wohlbefinden.
Wenn wir mit einem gebrochenen Bein oder Arm zur Arbeit erscheinen, bekommen wir Aufmerksamkeit, Sorge und Rücksichtnahme, weil die Menschen die Verbände sehen können. Sie dienen als Beweis unserer Verletzung. Dabei verursachen gebrochene Knochen nicht annähernd dieselben tiefgreifenden emotionalen, psychologischen und sozialen Beeinträchtigungen wie es psychische Leiden tun.
Dazu kommt eine Eigenheit in vielen Sprachen. Die meisten Sprachen verwenden dasselbe Wort – Depression, um den Zustand eines Menschen zu beschreiben, der sowohl aktuell wegen Regens schlecht gelaunt ist, wie den Zustand zu beschreiben, den ein Mensch Minuten vor einem Selbstmord fühlt. Wenn wir allerdings psychische Krankheit aus unserer Gesellschaft versuchen auszusperren, verstärken wir sie nur. Wenn wir uns versuchen vor ihr zu verstecken, wird sie nur größer.
Wir brauchen dringend einen offeneren Dialog darüber, wie stark sich psychische Probleme auf das Empfinden und das Funktionieren aller Beteiligten auswirken. Damit solche Diskussionen produktiv sind, müssen wir uns zunächst von der Vorstellung verabschieden, dass emotionale Probleme etwas Peinliches oder Unangemessenes an sich haben. So beeinträchtigen Gefühle wie Trauer, Sorge oder Angst nachweislich erheblich unsere Fähigkeit kreativ zu sein, Probleme zu lösen und generell zu funktionieren. Der Zuruf "Reiß dich endlich zusammen, andere haben wirkliche Probleme!" ist nicht die Lösung.
Stigmatisierung und Diskriminierung sind die beiden größten Hindernisse für einen produktiven Dialog über psychische Gesundheit. Tatsächlich scheint das Problem größtenteils ein Kommunikationsproblem zu sein. Die meisten denken immer noch, dass es eine Schande ist, wenn sie psychische Probleme haben. Sie denken, dass es ihre persönliche Schwäche aufzeigen würde. In dem Moment, in dem jemand anfängt, über seine Gefühle zu sprechen, agieren die Menschen um diese Person herum tatsächlich meist verstört und ängstlich. Sie verbinden das Gesagte mit ihrer Ansicht darüber, wer diese Person ist und wiegen das mit der eigenen Identität ab: Wer ist man selbst – als Individuum, mit seinen Gedanken, Ängsten, Hoffnungen. Die Verbannung des Stigmas, das mit psychischen Problemen verbunden ist, würde viel dazu beitragen, sinnvolle Gespräche zu ermöglichen.
Die meisten Unternehmen zögern psychische Leiden anzusprechen, weil sie meiner Erfahrung nach befürchten, dass Mitarbeitende solche Diagnosen zu Unrecht ausnutzen würden. Ihre Annahmen sind allerdings kurzsichtig und fehlgeleitet. Indem den Mitarbeitenden nicht die Zeit und Unterstützung gegeben wird, die sie zur Heilung brauchen, schaffen sich die Unternehmen erst die Probleme, weil sie Mitarbeitende haben, die über längere Zeiträume weit unter ihren Möglichkeiten arbeiten.
Wir alle müssen aufhören im Stillen zu leiden. Offen bezüglich der eigenen Gefühle zu sprechen, macht uns nicht schwach – es macht uns menschlich. Wenn Sie selbst mit psychischen Problemen kämpfen, geben Sie sich zu erkennen. Zeigen Sie Ihre verletzliche Seite. Tun Sie es mit der Zuversicht, dass Sie nicht alleine sind.
Für diejenigen, die nicht unter psychischen Problemen leiden, gilt es, aufmerksamer zu sein und besser zuzuhören. Gut zuhören und dabei nicht zu ver- oder beurteilen ist eine Kunst. Wenn jemand zu Ihnen kommt, um mit Ihnen über psychische Erkrankung, Angstzustände, Depression oder Selbstmordgedanken zu sprechen, versuchen Sie das auszuhalten. Nur so können wir gemeinsam das mit psychischer Gesundheit verbundene Stigma abbauen.
Wir alle müssen erkennen, dass psychische Probleme nicht die eigenen Stärken beschmutzen. Unternehmen müssen erkennen, dass psychische Gesundheit genauso wichtig ist wie physische Gesundheit. Die Dinge verändern sich gerade. Lassen Sie uns diese Änderungen sinnvoll ergänzen.