Manchmal wünsche ich mir, ich hätte früher begonnen. Vielleicht kennen Sie das auch: Eine Idee, ein Traum oder ein Projekt, das seit Jahren in Ihrem Kopf lebt, doch irgendwie ist es nie „der richtige Moment“ da. Wir alle kennen diese Ausreden: Das Timing ist nicht ideal. Es fehlt die Zeit, die Energie, vielleicht der Mut. Also warten wir – auf den perfekten Moment, der nie kommt.
Doch das Leben funktioniert nicht nach dem Drehbuch unserer Perfektionsfantasien. Je länger wir warten, desto schwerer wird es, in Bewegung zu kommen. Der Schlüssel liegt nicht im perfekten Anfang, sondern in irgendeinem Anfang.
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass viele große Entdeckungen der Menschheit aus reiner Unvollkommenheit entstanden sind? Beispielsweise war der Klettverschluss eine Inspiration aus der Natur – ein simpler Spaziergang mit einem Hund brachte dem Ingenieur Georges de Mestral die Idee. Der Schweizer bemerkte, wie sich kleine Kletten an seinem Hund und seiner Kleidung festhakten. Die winzigen Haken der Pflanzensamen inspirierten ihn dazu, das Prinzip in ein praktisches Verschlusssystem umzusetzen. So wurde der Klettverschluss geboren.
Perfektionismus wird oft als Grund genannt, warum wir zögern, aber das greift zu kurz. Dahinter steckt meist Angst: vor Fehlern, vor Ablehnung, vor dem eigenen Scheitern. Wir wollen Kontrolle – ein sicherer Start, ein kalkuliertes Risiko. Aber die Wahrheit ist: Kontrolle ist eine Illusion. Jede Reise, die sich lohnt, beginnt im Nebel der Ungewissheit. Erst das Losgehen lüftet ihn, Schritt für Schritt. Es geht nicht darum, alles zu sehen, sondern gerade genug, um den nächsten Schritt zu wagen.
In der Psychologie gibt es dazu ein faszinierendes Konzept: den Momentum-Effekt. Er beschreibt, wie kleine Handlungen eine Dynamik erzeugen, die weit über ihren ursprünglichen Umfang hinausgeht. Wer einmal ins Handeln kommt, hat weniger Mühe, weiterzumachen. Dieses Prinzip kennen wir aus dem Alltag: Einmal aufgeräumt, fällt es leichter, die Ordnung zu halten. Oder nach der ersten Trainingseinheit wächst die Lust auf die nächste.
Ein weiterer psychologischer Effekt, der dabei hilft, ist das Zeigarnik-Prinzip: Unvollendete Aufgaben bleiben uns länger im Kopf als abgeschlossene. Das bedeutet, dass selbst ein winziger Start ausreicht, um Ihr Gehirn daran zu erinnern: „Hier wartet noch etwas Wichtiges.“
Drei Schritte, die Ihnen helfen, heute anzufangen:
1. Setzen Sie einen festen Mini-Termin: Haben Sie eine Sache, die Sie aufschieben? Dann legen Sie sich heute fest: „Ich mache morgen früh 5 Minuten lang genau das.“ Beispiel: Wenn Sie schon lange eine Präsentation vorbereiten wollten, schreiben Sie morgen um 9 Uhr drei Stichworte auf – nicht mehr. Studien zeigen, dass kleine, terminierte Schritte helfen, die erste Hürde zu überwinden. Und wenn Sie danach das Bedürfnis haben, weiterzumachen, umso besser! Der Mini-Termin ist nur der Anfang – was daraus entsteht, darf flexibel wachsen.
2. Starten Sie mit einer winzigen Handlung: Beginnen Sie bei eins, nicht bei zehn. Wollen Sie fitter werden? Ziehen Sie morgen früh Ihre Turnschuhe an und gehen Sie fünf Minuten spazieren. Möchten Sie ein Buch schreiben? Öffnen Sie Ihr Schreib-Dokument und tippen Sie den ersten Satz. Der Trick: Fangen Sie bewusst mit einem Mikro-Schritt an, der keine Überwindung kostet.
3. Belohnen Sie sich direkt danach: Der Effekt von Belohnungen auf unser Verhalten ist enorm. Belohnen Sie jeden Mini-Schritt, den Sie heute tun – und machen Sie es sofort! Schreiben Sie eine Idee auf? Gönnen Sie sich danach einen Kaffee. Gehen Sie fünf Minuten spazieren? Hören Sie dabei Ihre Lieblingsmusik. Diese kleinen Belohnungen stärken die Verbindung zwischen Handeln und Wohlgefühl.
Das Leben wartet nicht auf uns. Es ist flüchtig und chaotisch, aber auch großzügig – es belohnt jene, die mutig sind, bevor sie bereit sind. Wenn wir auf das perfekte Niemals warten, verpassen wir das unvollkommene Heute. Das erste Kapitel eines Buches, der erste ungeschickte Schritt in ein neues Projekt, das erste unsichere Gespräch – all das ist unvollkommen. Doch genau darin liegt die Magie: Nicht das Perfekte bewegt uns, sondern das Mutige.
Also, was könnte Ihr heute sein?
—
In eigener Sache:
Liebe Leserin, lieber Leser,
Die Weihnachtszeit ist wie ein Atemzug zwischen den Jahren – ein Moment, in dem das Drinnen wichtiger wird als das Draußen. Die Hektik des Alltags verblasst, und es bleibt Raum für das, was oft übersehen wird: ein langer Blick aus dem Fenster, ein Buch, das auf seine Entdeckung wartet, oder einfach nur die Stille, die einem plötzlich wie ein Geschenk erscheint.
Ich werde diese Zeit nutzen, um genau das zu tun: langsamer zu werden, mich von der Stille überraschen zu lassen und vielleicht zu merken, was in den Lücken zwischen den Tagen lebt. Es ist ein Rückzug, der weniger mit einem Weggehen zu tun hat und mehr mit einem Ankommen – bei mir selbst und bei den Menschen, die mich umgeben.
Ich wünsche auch Ihnen eine Weihnachtszeit, die Sie bereichert, nicht belastet. Finden Sie Momente, die nur Ihnen gehören – sei es ein Spaziergang, ein Gespräch oder ein stiller Morgen mit einer Tasse Tee. Gönnen Sie sich die Freude, sich Zeit zu nehmen, ohne sich rechtfertigen zu müssen.
Ab dem 6. Januar 2025 werde ich mit frischen Gedanken und neuer Energie wieder hier sein, bereit, mit Ihnen in ein neues Jahr voller Möglichkeiten zu starten. Bis dahin wünsche ich Ihnen die Gelassenheit, im Kleinen etwas Großes zu finden, und die Zuversicht, dass die besten Geschichten oft in der Ruhe beginnen.
Herzlichst,
Ihre Ingrid Gerstbach