Letzte Woche saß ich in einem Café in Wien und beobachtete, wie das Morgenlicht durch die hohen Fenster fiel. Eine ältere Dame am Nebentisch schloss die Augen und lächelte selig, als die warmen Strahlen ihr Gesicht erreichten – ein Bild purer Zufriedenheit. Gleichzeitig sah ich, wie ein junger Mann am anderen Ende des Raums nervös seine Sonnenbrille zurechtrückte und seinen Platz wechselte, weg vom direkten Licht, sein Unbehagen war deutlich sichtbar.
Zwei Menschen, derselbe Sonnenstrahl, völlig unterschiedliche Reaktionen.
1969 sangen die Beatles „Here Comes the Sun“ und fingen damit ein kollektives Gefühl der Erleichterung ein. Nach den langen, dunklen Monaten war Georges Harrisons sanfte Hymne mehr als nur ein Lied – es war ein musikalisches Versprechen, dass schwere Zeiten vorübergehen. „Little darling, it's been a long cold lonely winter“, sang Harrison, und Millionen nickten verstehend.
Aber was, wenn diese intuitive Verbindung zwischen Licht und Glück eine gefährliche Vereinfachung ist?
Die Wissenschaft schien Harrison zunächst recht zu geben. Eine Studie aus dem Jahr 2021 bestätigte, dass Sonnenlicht positive Effekte auf Menschen während der Coronavirus-Lockdowns hatte. Doch als ich tiefer grub, stieß ich auf etwas Verstörendes. Diese „positive Wirkung“ war nur ein statistischer Durchschnitt – und Durchschnitte können, wie jeder Statistiker weiß, die interessantesten Geschichten verbergen.
Die Wahrheit ist radikaler: Unsere Beziehung zum Licht ist nicht nur individuell verschieden, sie ist oft paradox.
Nehmen wir die Saisonale Affektive Störung (SAD). Bis zu 9% der Bevölkerung leiden darunter – Menschen, deren Gehirne buchstäblich nach Licht hungern. Für sie ist Dunkelheit nicht nur unangenehm, sondern eine existenzielle Bedrohung. Ihre Neurochemie ist so kalibriert, dass Lichtmangel zu einer kaskadenartigen Störung ihrer Neurotransmitter führt. Sie sind wie biologische Solarzellen, die ohne Energie verwelken.
Aber hier wird es interessant: Eine Studie aus den Niederlanden aus dem Jahr 2016 entdeckte das Gegenteil. Direktes, intensives Sonnenlicht kann bei manchen Menschen Angstzustände auslösen. Nicht weil sie das Licht nicht mögen, sondern weil ihr Nervensystem überreagiert. Das helle Licht aktiviert ihr sympathisches Nervensystem so stark, dass es zu chronischer Hypervigilanz führt – ein Zustand ständiger Alarmbereitschaft, der Schlafstörungen und Panikattacken zur Folge haben kann.
Stellen Sie sich vor: Für manche Menschen ist Sonnenlicht lebensrettende Medizin, für andere ein Trigger für psychiatrische Symptome. Dieselbe Wellenlänge, völlig entgegengesetzte Wirkungen.
Und nun muss ich gestehen, dass ich selbst zu einer dritten, noch paradoxeren Kategorie gehöre. Ich leide an einer polymorphen Lichtdermatose, also einer Autoimmunreaktion auf UV-Strahlung. Mein Körper behandelt Sonnenlicht buchstäblich als Feind. Während mein Geist nach sonnigen Tagen verlangt, reagiert meine Haut mit juckenden Bläschen und Entzündungen. Es ist, als würde mein Immunsystem eine Revolte gegen das führen, was gesellschaftlich als Inbegriff von Gesundheit und Vitalität gilt.
Diese persönliche Erfahrung führte mich zu einer unbequemen Erkenntnis über die Natur des Glücks selbst: Wir leben in einer Kultur, die nach universellen Glücksformeln sucht. Sonnenlicht, Sport, soziale Kontakte – als gäbe es eine Art emotionalen Algorithmus, der für alle funktioniert. Aber meine Sonnenallergie ist nur ein Beispiel für ein größeres Phänomen: Unser Wohlbefinden ist nicht nur individuell, es kann regelrecht widersprüchlich sein.
Betrachten Sie die Forschung des Chronobiologen Russell Foster in Oxford. Er entdeckte, dass Menschen verschiedene „Chronotypen“ haben – ihre biologischen Uhren ticken unterschiedlich. Manche sind genetisch darauf programmiert, bei hellem Morgenlicht maximal produktiv zu sein. Andere erreichen ihren Höhepunkt erst bei gedämpftem Abendlicht. Zwingen wir einen Chronotyp in den Rhythmus des anderen, entstehen nicht nur Unproduktivität, sondern echte gesundheitliche Probleme.
Hier liegt der Kern einer größeren gesellschaftlichen Blindheit. Wir haben eine „One-size-fits-all“-Mentalität entwickelt, sowohl bei Glück, Gesundheit, Produktivität und auch bei Therapien. Lichttherapie wird oft als Universallösung für Depressionen beworben, aber für Menschen mit lichtinduzierter Angst kann sie katastrophal sein.
Die Ironie geht noch weiter. Vitamin D, das „Sonnenvitamin“, ist zu einem Gesundheitsfetisch geworden. Millionen schlucken Nahrungsergänzungen, um den (oft vermeintlichen) Mangel durch Lichtarmut auszugleichen. Aber neue Studien zeigen, dass zu viel Vitamin D zu Hyperkalzämie führen kann, einer Stoffwechselstörung, die Nierensteine, Herzrhythmusstörungen und paradoxerweise Depressionen verursachen kann.
Vielfalt existiert nicht nur in unseren Kulturen und Meinungen, sondern in den grundlegendsten biologischen Reaktionen unserer Körper. Anstatt zu urteilen, wenn jemand anders auf Sonnenlicht reagiert – oder auf irgendetwas anderes –, können wir anerkennen, dass Variation nicht nur normal, sondern essentiell für menschliches Gedeihen ist.
Was bedeutet das für unser Verständnis von Wohlbefinden? Zunächst müssen wir aufhören, Glück als standardisierbares Produkt zu betrachten. Wir glauben, dass bestimmte Praktiken universell heilsam sind. Aber biologische Systeme sind chaotisch, nicht linear. Was eine Person heilt, kann eine andere krank machen.
Zweitens sollten wir Widersprüche in unserem eigenen Erleben nicht als Schwäche interpretieren, sondern als Information. Meine Sonnenallergie ist nicht nur ein medizinisches Problem – sie ist ein Signal, dass mein Wohlbefinden komplexere Strategien erfordert als simple Lichtexposition.
Drittens müssen wir aufhören, Widersprüche als Probleme zu betrachten, die gelöst werden müssen. Das menschliche Herz ist groß genug, um gleichzeitig sich widersprechende Wahrheiten zu enthalten. Wir können etwas brauchen und es gleichzeitig fürchten. Wir können uns nach etwas sehnen, das uns schadet. Das macht uns nicht kaputt oder widersprüchlich – das macht uns menschlich
Die wahre Lektion von Harrisons Lied liegt nicht in seiner universellen Gültigkeit, sondern in seiner ehrlichen Emotion. „Here comes the sun“ ist nicht die Proklamation einer biologischen Wahrheit, sondern der Ausdruck einer zutiefst persönlichen Sehnsucht. Und Sehnsüchte, das zeigt die Forschung, sind so vielfältig wie die Menschen, die sie haben.
Vielleicht ist das der Schlüssel zu authentischem Wohlbefinden: nicht die perfekte Formel zu finden, sondern zu akzeptieren, dass jeder von uns ein einzigartiges biologisches und psychologisches System ist, das individuelle Lösungen erfordert. Manchen hilft das Licht, anderen schadet es. Manche brauchen Routine, andere Chaos. Manche finden Ruhe in der Gemeinschaft, andere in der Einsamkeit.
Vielfalt existiert nicht nur in unseren Kulturen und Meinungen, sondern in den grundlegendsten biologischen Reaktionen unserer Körper. Anstatt zu urteilen, wenn jemand anders auf Sonnenlicht reagiert – oder auf irgendetwas anderes –, können wir anerkennen, dass Variation nicht nur normal, sondern essentiell für menschliches Gedeihen ist.
Vielleicht ist das die tiefere Botschaft: nicht dass wir alle denselben Quellen des Glücks nachjagen sollten, sondern dass wir die großartige Komplexität menschlicher Erfahrung ehren sollten. Ob es Sonnenlicht ist, Schatten oder etwas ganz anderes – jeder von uns muss entdecken, was ihn oder sie persönlich zum Leuchten bringt, und respektieren, dass das Licht anderer von einem völlig anderen Ort kommen mag.
Letztendlich hatten die Beatles etwas zutiefst Wichtiges erkannt: Es gibt tatsächlich etwas, das jeden von uns glücklich macht. Sie ahnten vermutlich nur nicht, wie wunderbar unterschiedlich dieses Etwas für jeden Menschen sein würde, der ihr Lied hörte.
Die Sonne geht für uns alle auf – aber sie beleuchtet völlig verschiedene Landschaften des menschlichen Erlebens. Und das ist keine Schwäche unserer Spezies, sondern ihr größter Reichtum.
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