Narzisst oder zu viel Selbstvertrauen? Das ist der Unterschied.

Es ist in der Praxis gar nicht so einfach, einen Narzissten als solchen zu erkennen. Die Ähnlichkeit zu einer Person mit einem hohen Anteil an Selbstvertrauen ist auf den ersten Blick hoch. Denn an der Oberfläche scheinen Menschen mit einem stark narzisstischen Ansatz einfach sehr selbstbewusst zu sein. Zunächst wirkt der Narzisst äußerst freundlich, zuversichtlich und vor allem selbstlos. Die Erkenntnis, dass er oder sie kontrollierend und alles andere als altruistisch handelt, kommt meist viel zu spät.

Nehmen wir ein Beispiel: Vertrauen ist in jedem Team das A und O. Es vermittelt ein Gefühl der Sicherheit und sorgt damit dafür, dass sich die Menschen wohl fühlen, sich öffnen und Risiken eingehen, um aus Fehlern zu lernen. Vertrauen entwickelt sich unter anderem dadurch, dass die Menschen in einem Team wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können.
Nun hat Herr M. die ihm zugeteilten Aufgaben nicht erledigt. Angesprochen darauf könnte er sagen, dass er diese schlicht und ergreifend einfach nur vergessen hat. Stattdessen erklärt er in einem großen Auftritt, dass es nicht seine schuld wäre, hätte er sich doch um seine kranke Schwiegermutter kümmern müssen und sich in Folge nicht auf seine Arbeit konzentrieren können. Herr M. schafft durch diese Aussage in Kürze, die Stimmung im Team auf den Nullpunkt zu bringen und ein Gefühl des Unwohlseins und der Scham zu verbreiten.

Unbewusste Abwehrmechanismen sind gesund und normal

Das Umlenken der Schuld von sich selbst auf die kranke Schwiegermutter ist ein typischer Verteidigungsmechanismus eines Narzissten - mit einer emotionalen Not oder Aufopferung für eine andere Person hat dieses Verhalten letztlich wenig zu tun. Abwehrmechanismen sind grundsätzlich etwas vollkommen Normales und auch wichtig für das persönliche Wachstum. Aber wenn dieser Mechanismus starr ist und Sturheit zur Folge hat, hat das nichts mit einer tiefen emotionalen Fähigkeit zu tun. Den Fokus weg von den vergessenen Aufgaben hin zur kranken Schwiegermutter zu lenken, ermöglicht es Herrn M. Verantwortlichkeit abzugeben. Diese kognitive Verzerrung, die als Opferhaltung bezeichnet wird, hilft dabei, unangenehmen Konsequenzen zu entkommen.

Wäre Herr M. einfach nur unsicher und emotional von dieser Situation betroffen, wäre es ihm sehr peinlich, erwischt worden zu sein. Der unbewusste Abwehrmechanismus hält aber in diesem Fall die unangenehmen Gefühle gänzlich von ihm fern. Ablenkung, Projektion und Verzerrung schützen vor dem Schmerz der Verantwortlichkeit und den Schmerz, der durch Empathie ausgelöst wird. Die kognitive Verzerrung, die typisch bei Narzissten ist, führt dazu, dass er sich als Opfer sieht: Schließlich hat er all seine Energie geopfert, um jemanden zu helfen, der ohne seine Hilfe unversorgt geblieben wäre. Die Schuld läge daher nicht bei ihm, sondern bei den Teammitglieder, da sie ihre eigenen Bedürfnisse über die einer hilflosen Person stellen würden.

Opferhaltung als kognitive Verzerrung

Extreme Abwehrreaktionen verzerren die eigene Perspektive. Die Person betrachtet die Welt durch die Brille des Opfers. Das Gefühl schlecht zu sein, wird auf andere projiziert, um das eigene Gefühl der Ehrenhaftigkeit aufrecht erhalten zu können. Gleichzeitig weiß der Narzisst andere Menschen so zu manipulieren, dass sie sich schlecht fühlen oder sich gemüßigt fühlen, ihre Aussagen und Sichtweisen zu korrigieren. Der unbeteiligte Dritte, in unserem Fall die kranke Schwiegermutter, hilft dem Narzissten dabei, die Projektion geschickt umzulenken.

Eine Person, die viel Selbstvertrauen besitzt, würde auf dieselbe Situation ganz anders reagieren: Er oder sie könnte die unangenehmen Gefühle zulassen und dadurch Unsicherheiten und Schwachstellen tolerieren. Durch andere, nicht so starre Abwehrmechanismen würden die unangenehmen Gefühle so verändert werden, dass sie trotz allem angenommen und daraus gelernt werden könnte.

Unangenehme Gefühle sind gute Lehrer

Obwohl unangenehme Gefühle das Selbstbewusstsein einer Person belasten, ermöglichen sie erst ein Lernen durch Einsicht und den Aufbau von Empathie. Wir brauchen diese Gefühle, damit wir uns als Menschen weiterentwickeln und Eigenschaften aufbauen, die gesunde Beziehungen erst möglich machen.

Wäre Herr M. wirklich zuversichtlich und selbstbewusst, müsste er nicht zur Schwiegermutter greifen - er würde in erster Linie Reue empfinden. Dieses Gefühl würde ihm wiederum dabei helfen, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen und Wiedergutmachung zu leisten. Anstatt das Opfer zu spielen, um Sympathie für sich selbst zu gewinnen, könnte er so die Verantwortung für seinen Fehler übernehmen, Empathie vermitteln und seine Fehler wieder gut machen. Da Scham und Reue unangenehme Gefühle sind, würde sich der Fehler vermutlich auch nicht mehr so schnell wiederholen.

Ein Bewusstsein für Unsicherheiten ermöglicht es uns, eine gesunde Selbstregulierung zu entwickeln. Wenn wir uns unserer eigenen Schwächen bewusst sind, müssen wir keine Ablenkungen oder Projektionen nutzen. Wir haben dann einen Zugang zu unseren normalen und auch mal unangenehmen Gefühlen, die unser Selbstgefühl gefährden können. Doch es sind genau diese Gefühle, die uns überhaupt erst Empathie und ein Bewusstsein für unser Selbst ermöglichen. Selbstbewusstsein und Empathie sind die wichtigsten Fähigkeiten, mit deren Hilfe wir entwickeln. Noch dazu leben wir in einer Welt der Dualität: Wir müssen schlechte Gefühle empfinden - nicht nur um zu lernen, sondern auch um die guten Gefühle als solche überhaupt erkennen zu können.

Nutzen Sie das Fenster in das Unbewusste des Narzissten

Wie können Sie nun mit einem Narzissten in einer solchen Situation am besten umgehen? Nun, das Verständnis der Funktionsweise der Opferhaltung und der Projektion als Selbstschutz ist für Ihr Verhalten von entscheidender Bedeutung. Sie erfahren so, was er oder sie denkt und fühlt. Wenn Sie jemand mit seiner Opferhaltung beschämt, dann ist das ein deutliches Zeichen, dass er oder sie die eigenen Gefühle auf Sie projiziert und so im Grunde auf seine oder ihre eigenen unangenehmen Gefühle reagiert.

In diesem Fall gilt es, dass Sie Ihre Grenzen klar festlegen und auch verteidigen. Sie müssen ein Kraftfeld um sich herumziehen. Antworten Sie dem Narzissten in etwa so "Das tut mir leid, aber dafür können wir auch nichts." oder "Das ist schlimm, aber deswegen kannst du uns nicht im Stich lassen.". Tappen Sie nicht in die Falle und beginnen Sie nicht sich zu verteidigen. Denn wenn Sie das tun, dann bestätigen Sie den Narzissten darin, Recht zu haben. Vergessen Sie nicht: Kein Mensch hat das Recht andere emotional zu missbrauchen. Lassen Sie nicht zu, dass jemand Ihr Vertrauen und Ihr goldenes Herz zerstört. Beschützen Sie es - es ist ein Geschenk.

(Weitere Tipps, wie Sie am besten mit einem emotionalen Manipulator umgehen können, finden Sie auch hier.)

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