Andere Menschen zu beurteilen hilft dabei, die Welt um sich herum zu definieren. Es bedeutet, sich aufgrund von Gedanken, Gefühlen und Hinweisen eine Meinung über jemanden oder etwas zu bilden. Wenn Sie eine Person beurteilen, versuchen Sie festzustellen, wie “sicher” die Begegnung mit ihm oder ihr ist. Das Gehirn sammelt dabei Informationen, um zu entscheiden, ob Sie in Gefahr sind. Wenn es dabei feststellt, dass keine unmittelbare Gefahr besteht, wird die Beurteilung für einen Vergleich herangezogen. Damit können Sie dann feststellen, wie ähnlich oder eben unterschiedlich jemand von Ihnen oder von denen ist, mit denen Sie vertraut sind.
Menschen beurteilen andere innerhalb kürzester Zeit. Diese Urteile sind mächtig, aber viel zu oft auch irreführend. Noch dazu könnten Sie durch die Beurteilung anderer möglicherweise ganz großartige Chancen verpassen. Die Wissenschaft des ersten Eindrucks ist kompliziert und wird von vielen Dingen beeinflusst, die teilweise außerhalb der eigenen Kontrolle liegen wie neurologischen Prozesse. Es dauert weniger als 1/10 Sekunde, bis eine Person in einer Schublade landet.
Diese ersten Eindrücke geben wichtige Hinweise auf verschiedene Eigenschaften wie Attraktivität oder Vertrauenswürdigkeit. So lässt zum Beispiel auch eine erste Einschätzung der Kompetenz eines Politikers - allein aufgrund seines Aussehens - den Erfolg bei einer Wahl vorhersagen. Diese Eindrücke, die im Bruchteil einer Sekunde gefällt werden, sind Studien zufolge nicht zufällig. Aber deswegen sind sie noch lange nicht richtig. Obwohl eine Beurteilung im Grunde genommen nichts anderes als eine Meinung ist, verwechseln es dennoch viele mit der Realität.
Aber auch die Menschen, die nicht selbst jemanden beurteilen, sondern nur zuhören, sagen oft nichts dagegen. Auch sie haben Angst davor, selbst Opfer zu werden zu werden. Wie oft hörten man, wie Nachbarn oder Freunde „ihre Verdächtigungen hatten“, aber nichts taten. Sie wollten andere nicht verurteilen und gingen davon aus, dass alles in Ordnung sei. Forschungen weisen bei diesem Effekt auf den Zuschauereffekt hin: Wir beobachten die Menschen um uns herum, um genauso wie sie zu reagieren. Je mehr Personen bei einer Notsituation tatenlos zusehen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anderer eingreift oder Hilfe leistet. Menschen passen sicher der Reaktion der Umgebung an. Aber: Stille stoppt Veränderung.
Bei einem Vergleich, der für eine Beurteilung herangezogen wird, geht es in erster Linie immer mehr um die urteilende Person und deren eigenen Stärken und Schwächen, nicht um die Person, die beurteilt wird. Dazu kommt, dass Urteile in den meisten Fällen negativ ausfallen. Denn wenn die Beurteilung über eine andere besser als über die eigene Person ausfällt, würde das bedeuten, dass man selbst schlecht ist.
Nun ist es gar nicht so einfach von heute auf morgen mit dem Beurteilen und Schubladenstecken aufzuhören, zumal es für viele bereits eine Gewohnheit ist, die mehr oder minder automatisch abläuft. Das Wichtigste ist, dass Sie sich zunächst bewusst machen, was eigentlich passiert. Denn Veränderung ist erst dann möglich, wenn sie sichtbar wird. Ist das allerdings der Fall, ist eine Veränderung fast nicht mehr aufhaltbar.
Hier habe ich ein paar Vorschläge, wie Sie eine vorschnelle Beurteilung vermeiden können:
Seien Sie neugierig: Wenn Sie andere beurteilen, basiert das zumeist nur auf oberflächlichen Informationen oder auf unvollständigen Tatsachen. Wenn Sie stattdessen neugierig auf die andere Person sind, ermöglicht das Ihnen, Fragen zu stellen und Informationen zu sammeln, bevor Sie ein Fazit ziehen. Mit jemandem zu sprechen und zu erfahren, wer diese Person ist, was hinter ihrem oder seinem Denken steckt und welche Erfahrungen er oder sie gemacht hat, hilft dabei, einen größeren Einblick in dessen Entscheidungen zu gewinnen. Wenn Sie jemanden kennenlernen, sind Ihre Beurteilungen in der Regel positiver und passieren weniger automatisch.
Achten Sie auf Ihre Gedanken: Ihre Gedanken führen zu Ihrer Beurteilung und zu Ihrem Handeln. Achten Sie darauf, was Sie denken, bevor Sie jemanden verurteilen. Be- und Verurteilungen basieren häufig auf den eigenen Gefühlen und Unsicherheiten, die Sie möglicherweise auf andere projizieren. Obwohl Sie vielleicht denken, dass Sie sich dadurch überlegen fühlen, führt es vielmehr dazu, dass Sie sich schlechter fühlen, da es Ihre eigenen Unsicherheiten hervorhebt und das Negative verstärkt. Wenn Sie merken, dass Ihre Gedanken negativ sind, stellen Sie sich einfach mal ein Stoppschild in Ihrem Kopf vor, das Sie daran erinnert, den Gedanken zu stoppen und ihn in etwas Positiveres zu ändern.
Wählen Sie einen anderen Rahmen aus: Wenn Sie die Art und Weise, wie Sie über Dinge denken, neu formulieren, nehmen Ihre negativen Beurteilungen und Sichtweisen ab. Sie haben vielleicht nicht immer Kontrolle über das, was in Ihrem Leben passiert, aber Sie haben immer die Kontrolle darüber, wie Sie darüber denken. Wenn Sie beispielsweise jemand in einem Meeting ständig unterbricht, überlegen Sie kurz, warum er oder sie das tut. Sie könnten diese Person als einen Menschen verurteilen, der gerne im Mittelpunkt steht und, der sich um niemanden anderen selbst kümmert. Oder Sie können davon ausgehen, dass er oder sie nur unsicher ist und Angst hat, den Job zu verlieren. Wenn Sie sich entscheiden, eine Situation neu zu gestalten, indem Sie sie mit mehr Empathie und Mitgefühl betrachten, ist es weniger wahrscheinlich, dass Sie ein negatives Urteil bilden.
Es ist niemals unsere Aufgabe einen anderen Menschen zu ändern. Wir können (wenn wir gefragt werden) Ratschläge geben, mit gutem Beispiel vorangehen und Menschen inspirieren - trotzdem liegt es am Ende bei jedem Einzelnen, sich zu entscheiden, sein Leben zu verbessern. Lassen wir den Menschen Raum, so zu sein, wie er oder sie ist. Wenn ich die Wahl zwischen einer Welt hätte, in der Menschen beurteilt, kritisiert und denunziert werden, oder einer, in der Menschen geliebt und akzeptiert werden, würde ich ohne zu zögern letztes wählen. Und Sie? Es liegt an jedem einzelnen von uns zur Schaffung beizutragen. Und das beginnt immer als erstes bei einem selbst – sowohl in Gedanken als auch in Taten. Je weniger wir andere beurteilen, desto mehr Raum geben wir Empathie, Liebe und Akzeptanz.