Es gibt unzählige Mythen über introvertierte Personen. So wird zum Beispiel Introversion häufig mit sozialer Angst, Einsamkeit oder Schüchternheit gleichgesetzt. Oder dass Menschen entweder nur introvertiert oder extravertiert wären. Dabei bewegt sich der Großteil der Menschen zwischen diesem Spektrum und gilt daher als ambivert, wobei wir mehr zu der einen oder zu der anderen Seite tendieren. Ob jemand eher introvertiert ist oder nicht, lässt sich am besten mit der Frage klären, woher ein Mensch seine Energie bezieht: Je introvertierter Sie sind, desto schneller laden Sie Ihre Batterien im Alleinsein. Ist die Energie dann vorhanden, geht es raus in die Welt, um sich wieder mit Menschen zu verbinden.
Ich selbst zähle mich eher zu den introvertierteren Menschen. Ich lebe mein Leben zu meinen eigenen Bedingungen - das macht mich glücklich und gibt mir die Energie, die ich brauche, um anderen weiterhelfen zu können. Meine persönliche Ladestation finde ich in der Natur. Es ist mir unangenehm, im Rampenlicht zu stehen. Viel lieber beobachte ich einfach nur das Treiben um mich herum. Ich ziehe jeder Party ein gutes Buch vor.
Ich verbinde mich aber auch sehr gerne mit Menschen. Ich liebe den Austausch, der mich in fremde Welten eintauchen lässt. Gespräche auf der Straße oder im Café mit mir unbekannten Menschen empfinde ich als extrem spannend und bereichernd. Es erfüllt mich, anderen zu unterstützen und ihr natürliche Problemlösungskompetenz und ihre Neugier zu entdecken. Und trotzdem scheue ich Menschenansammlungen.
Das war aber nicht immer so. Am Schulhof habe ich Sprechstunden eingeführt, um anderen bei ihren Problemen zu helfen. Ich habe mich in der Theatergruppe ausgelebt und es gab keine Feier, bei der ich nicht dabei war. Aber irgendwann hat sich das geändert. Je mehr mich die Faszination anderer Welten gepackt hat und je schwerer ich Grenzen zwischen meiner und den anderen Welten ziehen konnte, desto mehr habe ich mich zurückgezogen. Im Nachhinein habe ich erkannt, dass ich das tat, um mich selbst zu schützen.
Welche Geschichte erzählen Sie von sich?
Je nach der Geschichte, die ein Mensch über sich sich selbst erzählt, schätzt er sich selbst als eher introvertiert oder extravertiert ein. Das ist das Ergebnis einer Studie. Personen, die sich selbst als introvertiert sehen, haben demnach Schwierigkeiten damit, ihr eigenes extravertiertes Verhalten als solches zu erkennen. Sie erinnern sich kaum an Situationen, in denen sie extravertiert agiert haben, meiden eher potenziell stressige Erfahrungen und isolieren sich viel früher als es Menschen tun, die sich selbst als extravertiert einstufen.
Nun entscheidet vor allem die Art und Weise, wie Sie Ihre Energie aufbauen, in welche Kategorie Sie eher fallen: Introvertierte schöpfen Energie im Alleinsein und überdenken lieber zunächst die eigenen Gedanken bevor sie sie mit anderen teilen. Für Extravertierte ist es die gemeinsame Zeit mit anderen Personen, die ihre Batterie wieder auflädt.
Introversion oder doch Isolation?
Gerade in dieser Welt der Informationsüberflutung sind wir durch den online Zugang gefühlt ständig anderen Menschen ausgesetzt. Die Folge ist ein enormer Anstieg an Stress. Wir suchen vermehrt Abstand, Raum und Zeit für uns selbst. Dieser Selbstschutz darf aber nicht mit Introversion verwechselt werden.
Wenn Sie ständig Pläne mit anderen Personen verschieben, bewusst bestimmte Menschen meiden, tagelang einfach abtauchen und in sehr wichtigen Momenten für andere nicht da sind, sind Sie nicht introvertiert, sondern isolieren sich.
Isolation ist in den meisten Fällen die Folge einer früheren Verletzung. Wird diese Verletzung nicht geheilt, beginnen wir zu glauben, dass es für uns sicherer ist, alleine zu bleiben, statt unserem natürlichen und gesunden Bedürfnis nach menschlicher Verbindung zu folgen. Dabei braucht jeder andere Menschen, um zu wachsen, zu gedeihen und sich auch selbst zu definieren.
In einer Welt, in der wir ständig für jeden jederzeit zugänglich sind, ist es normal und auch gesund, sich nach Zeit für sich selbst zu sehnen. Diese Pause von anderen sollten Sie sich auch unbedingt eingestehen und nutzen, um zu regenerieren - ohne gleich ein schlechtes Gewissen zu empfinden. Das ist weder unhöflich noch egoistisch.
Wenn Sie aber die Bedürfnisse anderer Menschen missachten oder gar die Gefühle anderer mit Füßen treten, dann zeigen Sie Verhaltensweisen, die auftreten, wenn wir uns zurückziehen und einigeln. Isolation ist ein ungesunder Bewältigungsmechanismus, der eintritt, wenn wir wissen, dass wir etwas an unserem Verhalten ändern müssen, uns aber nicht in der Lage fühlen, das auch zu tun.
Introversion darf nicht zur Ausrede werden
Spüren Sie in sich rein und überlegen Sie, ob Sie wirklich introvertiert sind oder ob Sie eine alte Verletzung haben, die geheilt werden sollte. Missbrauchen Sie Introversion vor allem nicht als Ausrede, wenn Sie verlernt haben, gesunde Grenzen zu ziehen. Die eigenen Grenzen zu verteidigen ist wirklich nicht einfach. Aber Grenzen sind die Grundlage jeder gesunden Beziehung. Sie helfen uns dabei, uns zu unseren persönlichen Werten zu bekennen und diese so zu leben, damit wir glücklich sind.
Introversion ist eine absolute Stärke - wie es auch Extravertiertheit ist. Beide Eigenschaften haben ihren Platz und ihre Berechtigungen.
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