Letztens waren mein Mann und ich zum Essen bei Freunden eingeladen. Es war ein sehr netter Abend, nur wurde er dominiert von jemanden, der als Speaker sein Geld verdient. Er ist ein brillanter Redner, der von der Bühne aus hunderte Menschen mit seinen Geschichten inspirieren und motivieren. Aber in kleinen Gesellschaften ist es unmöglich neben ihm zu sitzen und auch nur einmal zu Wort zu kommen. Auf der Bühne kann er diese Stärke sehr gut ausspielen, aber bei einem kleinen Abendessen lässt ihn dieselbe Eigenschaft unangenehm erscheinen.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Annahme in der Arbeitswelt dahin entwickelt, dass Menschen ihre Stärken ausspielen sollen. Diese Bewegung dominiert nach wie vor in vielen Bereichen - von der Karriereentwicklung und Führung bis hin zur Bildung. Das hat dazu geführt, dass viele Menschen darauf fixiert sind, ihre Schwächen zu überspielen. Dazu kommt, dass wir einfach auch nicht jeden Tag die Chance haben, das zu tun, was wir am besten können.
Aber all diese Dinge sind nicht das eigentliche Problem. Das Problem besteht vielmehr darin, dass viele nicht darüber nachdenken, wann sie tun, was sie am besten können. Denn Erfolg resultiert nicht daraus, dass Sie Ihre Stärke permanent ausspielen, sondern dass Sie sie in den richtigen Situationen einsetzen.
In der letzten Woche hatte ich es mit einem großartigen Beispiel für eine Person zu tun, die ihre Stärke ziellos anwendet. Im Rahmen eines Projektes arbeitete ich mit einem Manager zusammen, der ein erfahrener Problemlöser ist. Analytik ist eine seiner Stärken. Das führt dazu, dass er sich in jeder Situation auf seine Logik verlässt – unabhängig vom Kontext. Nun arbeite ich für Unternehmen, die mitten in Veränderungsprozessen sind, und bei denen vorhandene Strukturen, Regeln und Systeme schnell neuen Plänen zum Opfer fallen. Die analytische Fähigkeit des Managers führte zu ständigen Blockaden, da dabei das Gefühl entstand, dass alles außer Kontrolle wäre. So wurde seine Problemlösungsstärke zu einem Handicap, das uns im Projekt mehr als einmal zum Hindernis wurde. Wenn wir uns zu sehr auf unsere Stärken verlassen und unflexibel werden, erkennen wir andere Perspektiven nicht mehr und verharren schnell in blinden Flecken.
In einer Studie wurden Führungskräfte von über 1.500 ihrer Mitarbeitenden in vier Schlüsselverhalten eingeteilt: Verantwortung übernehmen, andere führen, Vision entwickeln und Dinge umsetzen. Nach der Einteilung stellten die Forscher die wichtigste Frage: Haben diese Menschen von jedem Verhalten zu wenig, das richtige Maß oder zu viel? Die Antwort: Mehr als die Hälfte der Führungskräfte übertrieben mindestens ein Verhalten – und ihre Stärken sagten voraus, welche Eigenschaft das war. Ehrgeizige Personen neigten dazu, ihre Entschlossenheit zu übertreiben und zu streng zu sein, während sensible Personen das gegenteilige Problem hatten: Sie waren zu wenig energisch und zu euphorisch. Die Neugierigen betonten Innovation zu stark und verloren so die Ergebnisse aus den Augen, während gewissenhafte Menschen so sehr damit beschäftigt waren, sich im Detail zu verlieren, sodass sie das ganze Große aus den Augen verloren.
So können Ärzte zum Beispiel, die sich darin auszeichnen, in Situationen mit hohem Druck ruhig und ausgeglichen zu bleiben, Schwierigkeiten haben, wenn sich Patienten nach Empathie sehnen. Oder der Assistent, der ein loyaler Teamplayer ist, kann sich schwertun, Grenzen zu setzen und Nein zu sagen. Eine Architektin, die sehr detailorientiert ist, wird sich in ihrem Job auszeichnen, kann aber manchmal in kontraproduktiven Perfektionismus verfallen.
Wenn wir unsere Stärken übertreiben, kann es passieren, dass wir unflexibel werden. Nur die Stärken zu leben, macht nicht nur anfällig für Selbstüberschätzung oder Arroganz – wenn wir die Schwächen erleben, fordert das viel Selbstbewusstsein, das wiederum zu Gruppendenken führt und neue Perspektiven ausschließt.
Die Lösung besteht nun aber nicht darin, sich obsessiv auf die Schwächen zu fixieren. Im Gegenteil: Viele Forschungsergebnissen deuten darauf hin, dass zu viel Selbstkritik die Motivation hindert. Es gilt vielmehr, unser Verständnis über unsere Stärken anzupassen. Unsere Stärken sind nicht per se die Dinge, in denen wir gut sind. Sondern unsere Stärken führen dazu, dass wir uns nach deren Ausführung gestärkt fühlen. In der Psychologie wird dieses Konzept Selbstwirksamkeit genannt. Und diese ist wiederum die Grundlage für Selbstvertrauen.
Es gibt drei Schritte, die Sie setzen können, um Ihre Stärken optimal einzusetzen:
1. Suchen Sie eine andere Perspektive
Die meisten Menschen neigen dazu, Fähigkeiten einseitig zu betrachten – schwarz oder weiß, positiv oder negativ. Versuchen Sie eine neue Sichtweise zu bekommen. Führen Sie ein 360-Grad-Feedback durch. Oder bitten Sie Freunde oder Familie um Hilfe, in dem Sie sie fragen, was ihrer Meinung nach Ihre drei besten Eigenschaften sind oder was Sie verändern könnten. Achten Sie aber dabei darauf, dass es nicht um „fishing for compliments“ geht, sondern dass Sie ehrliches Feedback wollen, um zu wachsen. Tief im Inneren wollen wir alle gut sein, niemand mag negatives Feedback. Deswegen kann das, was Sie hören, dazu führen, dass Sie sich verletzt fühlen. Das ist menschlich, aber versuchen Sie das als das zu sehen, was es ist: ein Gefühl, das Sie in diesem Moment erleben und das Sie ändern können.
2. Ändern Sie Ihr Verhalten
Identifizieren Sie als Nächstes die Verhaltensweisen, die Sie ändern oder verbessern möchten. Wenn Sie zum Beispiel zu perfektionistisch veranlagt sind, nehmen Sie sich vor, Ihren inneren Kontrollfreak in Zaum zu halten. In einem solchen Fall kann das bedeuten, dass Sie lernen müssen zu delegieren. Sie können damit beginnen eine Liste all der Meetings zu erstellen, bei denen Sie in den letzten Wochen anwesend waren, um dann zu beurteilen, ob es wirklich jedes Mal notwendig war, dass Sie dort waren. Dadurch spielen Sie sich nicht nur selbst mehr Zeit frei, sondern Sie können so auch anderen die Chance geben, mehr Verantwortung zu übernehmen – ein Zeichen echter Führung.
3. Suchen Sie nach Aktivitäten, die Sie herausfordern
Wenn Sie sich nur auf Ihre Stärken konzentrieren und keine neuen Erfahrungen machen, fühlen Sie sich schnell festgefahren. Es liegt in unserer menschlichen Natur, dass wir wachsen und uns entwickeln wollen. Das geht am besten, wenn Sie sich bewusst in herausfordernde Situationen begeben. Wenn Sie zum Beispiel denken, dass Sie nicht kreativ sind, melden Sie sich freiwillig, um an kreativen Projekten bei der Arbeit teilzunehmen – gerade weil Sie Ihre Grenzen erweitern möchten.
Stärken sind wie Muskeln: Wenn Sie sich nur auf Ihren Trizeps konzentrieren, leidet Ihr Bizeps. Wenn Offenheit eine Ihrer Stärken ist, vergessen Sie nicht, dass es einen schmalen Grat zwischen Ihre persönlichen Erfahrungen teilen und jemanden überfordern gibt. Wenn Sie mutig sind, sollten Sie aufpassen, andere zu sehr zu drängen. Und wenn Sie gut bei öffentlichen Reden sind, denken Sie daran, dass nicht jeder Raum gleich eine Bühne ist. Selbstvertrauen entsteht, wenn Sie Ihre Stärken erkennen. Und der wahre Wert einer Stärke hängt davon ab, wann und wie Sie sie einsetzen.